Rattentanz
steckte, hin. Als Bubi den Kopf schüttelte, ließ er es im eigenen Mund verschwinden.
»Wir brauchen also diese Eva, damit Kiefer und du und ich endlich von hier verschwinden können.«
»Und mit dem wahren Leben beginnen.«
»Also dann los, worauf noch warten?! Gehen wir zu Basler und dann ab in den Stall!«
Wie erwartet spielte Basler den Alleinherrscher. Von oben herab, in der Garageneinfahrt seines Hauses, gestattete er Fuchs großzügig, die Bleibe seines angeblichen Vaters in Besitz zu nehmen. Hier könne er auf dessen Rückkehr warten. Bedingung für diese Großzügigkeit war natürlich Fuchs’ Mithilfe im Dorf. Wie geplant brachten sie Basler dazu, den Neuankömmling Albickers zuzuteilen. Hermann Fuchs war vom nächsten Tag an der Erste, der bei Sonnenaufgang im Stall erschien und am Abend der Letzte, der ging. Für ihn, der seit Jahren weder körperliche Arbeit noch einen geregelten Ta gesablauf kannte, war es eine Tortur, allerdings eine Tortur, die er selbst kaum als solche wahrnahm.
Kiefers Worte lebten in ihm, waren Mahnung und Echo, sie motivierten Fuchs bis in die kurzen Haarspitzen. Er war am Leben und die Aussicht auf sein Geld und eine Zukunft, vielleicht in Kiefers Gefolge, verliehen ihm Kraft und Ausdauer. In seiner Jugend hatte er drei oder vier Jahre, jeweils in den langen Sommerferien, in einem Stall geholfen und so dauerte es nicht lange und Albickers überließen ihm zuerst das Misten des Stalls, bald auch die Fütterung und das Melken.
Fuchs war stets hellwach. Erschienen Thomas Bachmann und seine kleine Freundin am Morgen nach dem Melken, um die Tiere auf ihre Weiden zu führen, verschwand er still in einem Schatten oder hinter einem Heuhaufen. Obwohl ihn der Irre, wie er Thomas nannte, nur mit Mantel, zerzaustem Haar und Bart kannte, war Fuchs das Risiko, welches ein direktes Aufeinandertreffen in sich barg, zu groß. Eva Se ger sah er die ersten Tage nur aus der Ferne. Er erinnerte sich noch gut an die Schwester aus dem Donaueschinger Krankenhaus. Ihr hatte er sein Leben zu verdanken.
Eva Seger hatte nur am Abend kurz Zeit für die Arbeit im Stall. Die Zahl der Patienten, die sie mehr schlecht als recht betreute, war für eine einzelne Person kaum noch zu schaffen. Und es kamen täglich neue Krankheitsfälle hinzu: Kinder, die unreife Äpfel und Birnen gegessen hatten und sich nun in Bauchkrämpfen wanden, Erkältungen, die aufgrund der Mangelernährung ihrer Besitzer zu lebensbedrohlichen Zuständen führten. Viele verletzten sich bei dem für sie ungewohnten Umgang mit Sense, Hacke, Axt und Säge. Außerdem war Eva sehr oft bei Frieder Faust. Und nicht erst seit Hildegund Teufel mit einer schweren Lungenentzündung im Bett lag, bestand ihr Tag von der ersten bis zur letzten Minute aus Krankheit, Leid und Sterben.
Die Erfolgserlebnisse wurden immer seltener. Je weniger Vorräte und Kraft die Menschen noch besaßen, desto leichter erlagen sie früher unbedeutenden Wehwehchen und Gebrechen. Inzwischen verging kaum ein Tag, an dem man nicht mindestens ein frisches Grab aushob. Da war Sattlers Sohn im Ort ein willkommener Helfer. Ein gesunder Mann, der anpacken konnte − vielleicht nicht mehr der Jüngste, aber doch wenigstens ohne Frau und Kinder und die Sorgen um diese. Das erste Zusammentreffen mit Eva kam für Fuchs völlig unerwartet. Er war in seine Arbeit vertieft und träumte von einer goldenen Zukunft, einer Zigarette und einer Flasche Schnaps, als sich plötzlich jemand hinter ihm räusperte. Als er sich umsah, stand Eva vor ihm. Fuchs spürte sein Herz in die Hosentasche rutschen. Er durchsuchte seinen Kopf nach einer Erklärung für die Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Mann, der sie von Donaueschingen bis hierher verfolgt hatte. Aber Eva erkannte ihn allem Anschein nach nicht. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.
»Sie sind Georg Sattlers Sohn?« Fuchs nickte. Sein Herz klopfte und er wischte sich vor dem Händedruck nicht den Schmutz, sondern den Angstschweiß am Hosenbein ab.
»Hermann Fuchs.«
»Schade, dass Sie Ihren Vater nicht angetroffen haben. Gab es im Haus keinen Hinweis? Einen Zettel vielleicht, eine Notiz oder Landkarte?«
»Nein, nichts.«
»Wie lange wollen Sie bleiben?«
»Ich weiß es nicht«, log Fuchs. »Ich habe meine Mutter letzte Woche beerdigt, es gibt niemanden, der mich vermisst.«
»Ich muss zu den Tieren.« Eva zeigte zum anderen Ende des Stalls. Die Kühe hatten sie und den Eimer entdeckt und ihr Brüllen wurde von Minute zu Minute
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