Rattentanz
beiden Händen etwas Wasser, spülte seinen Mund und spuckte aus.
»Das war’s dann wohl«, sagte Malow und es war klar, was er mein te. Außerhalb ihres Gefängnisses gab es nur noch einen einzigen anderen Menschen. Und dieser eine Mensch war noch nicht einmal ein Jahr alt und saß, mit einem Strick an einen Baum gebunden, wie ein Hündchen in der Nacht und klagte.
Der Wasserspiegel der Bleilochtalsperre sank rapide und das Rauschen der Kaskaden unterhalb der ehemaligen Mauer wurde schwächer. Aber noch sprang hier Wasser über riesige Betonteile und erfüllte die wieder klare Nachtluft mit unheimlichen Tönen. Wo noch vor Kurzem ein glatter Wasserspiegel die gegenüberliegenden Ufer des Sees verbunden hatte, kam nun zügig das darunterliegende Saaletal zurück. Vereinzelt ragten schon schwarze Baumstümpfe aus dem Boden und reckten ihre Geisterfinger in die Nacht.
»Das war’s«, sagte Malow noch einmal. »Hier findet uns keiner.«
Der Glücklichste Mann der Welt hatte die einzigen Zeugen seines glorreichen Abgangs in einer aussichtslosen Situation zurückgelassen, Mutter Natur würde sich um sie kümmern. Aber so, wie es kommen sollte, hatte er es weder vorhergesehen noch geplant.
»Wir werden verhungern«, sagte Hans.
»Wenn wir nicht zuvor ersticken.« Malow trat gegen einen Stein. Silvia kämpfte noch immer gegen Mauerreste, Bretter und Geröll. Das in sich zusammengefallene Haus hatte eine Seite des Kellers zum Einsturz gebracht und eine Gerölllawine in das Gefängnis geworfen. Silvia tastete sich über den Haufen und kletterte unter die Decke. Dort suchte sie nach einem Ausgang, einem schmalen Spalt vielleicht, den sie vergrößern konnte. Aber alles, was sie fand, waren immer neue Steine. Zog sie einen heraus, rutschten zehn andere nach. Schließlich fand sie das morsche Ende eines Balkens. Sie weinte, als sie mit beiden Händen danach fasste. Larissas Klage war vor zwei, drei Minuten verstummt. Silvia zog, der Balken brach und die Frau rutschte ab und langsam nach unten.
»Hör jetzt endlich auf!«, schnauzte Malow sie an. »Der Dreck hat sich gerade gelegt, da musst du wieder neuen aufwirbeln! Was soll das überhaupt? Wir kommen hier nicht wieder raus! Das war’s!«
Silvia setzte sich mit bis unter das Kinn gezogenen Beinen neben Hans und starrte ins Leere. Malows Worte waren wie ein Todesstoß. Der Mann und seine Staumauer waren wahrscheinlich im Nichts verschwunden. Auch ihr war klar, dass sie diesen Ort niemals wieder verlassen konnten. Weder sie noch Hans oder Malow. Und auch Larissa nicht. In einer Woche hatte Larissa Geburtstag, den ersten. Aber den würde sie wohl nicht mehr erleben. Das Letzte, was sie von ihrem Kind gesehen hatte, war, wie der Glücklichste Mann der Welt es am Ufer des Stausees abgelegt hatte. Jetzt musste Larissa am Rand einer Schlucht sitzen, einer Schlucht voller vermoderter Pflanzenreste, tief und schwarz und böse. Warum hatte er ihr ihr Kind nicht zurückgegeben? Warum? Es ergab keinerlei Sinn, Larissa am Seeufer anzubin den! Hier im Keller könnten sie wenigstens gemeinsam sterben. Was, wenn die Wildschweine zurückkommen? Was, wenn ihnen die vergrabenen Reste des Schwarzen nicht mehr gut genug sind, wenn sie frisches Fleisch wittern? Was, wenn ein Fuchs oder einer der vielen herrenlosen Hunde vorbeikommt, die überall herumstreunen? Silvia fühlte sich dem Wahnsinn nahe. Es kostete sie all ihre Kraft, nicht wieder aufzuspringen und Steine zur Seite zu werfen. Etwas tun, irgendetwas unternehmen! Aber was?
Der Glücklichste Mann der Welt hatte Larissa etwas vorgekaute Fleischfasern und auch ein wenig Wasser gegeben. Und er hatte sie am Morgen, als es den Bleilochstausee noch gegeben hatte, gebadet. Das Seil schützte sie davor, zu nahe an die wieder auferstandene Schlucht heranzukrabbeln und abzustürzen, aber es konnte Larissa nicht retten. Nicht vor dem Verhungern und Verdursten. Nicht vor dem, was im Wald lauerte. Silvia weinte und außerhalb ihrer Gruft er zählten erste gelbgrüne Wolkenfetzen im Osten vom kommenden Tag. Als Silvia das Kind vor nun fast einem Jahr in einem Berliner Krankenhaus problemlos zur Welt gebracht hatte – und das, obwohl sie mit ihren damals zweiunddreißig Jahren bereits als spätgebärend galt –, hoffte sie auf ein neues Leben. Den richtigen Namen von Larissas Vater kannte sie nicht, wozu auch. Es gab keinen Mann, der bei ihr hätte bleiben wollen. Menschen schauen auf das Äußere. Aber wenigs tens hatte ihr ihr Äußeres –
Weitere Kostenlose Bücher