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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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meine Schuld abgetragen. Oder was meint ihr? Habe ich meine Schuld gesühnt? Hatte ich das Recht, zu gehen?« Hans und Silvia schwiegen. Es gab nur einen, der Henning Malow die Absolution erteilen durfte, sie waren es nicht.
    »Ich bin fortgegangen, während sie schlief. Wahrscheinlich ist sie lange tot. Und jetzt steht mir dasselbe bevor.« Malow lachte, ein bitteres, gequältes Lachen. »Ironie des Schicksals, würde ich sagen. Wie du mir, so ich dir.«
    »Was wird das hier? Die Stunde der Wahrheit? Ja? Noch schnell einmal beichten, bevor die Lichter ausgehen?« Während Malow erzählte, hatten sich Silvias Wangen gerötet. Auch am Hals hatte sie große rote Flecken – deutliches Zeichen ihrer Aufregung. Diese Flecken bekam sie, wenn sie unter Menschen gehen musste, wenn ein Auftritt bevorstand, die Flecken hatte sie gehabt, als Larissa gezeugt wurde. Aber jetzt konnte niemand diese Flecken sehen. »Interessiert dich seine Lebensbeichte, Hans? Mich nicht. Ich will nur weg von hier!«
    »Meinst du, wir nicht?« Malow war wieder im Jetzt. Es hatte gut getan, alles zu erzählen. Silvia hatte recht, es war eine Beichte und die kommt naturgemäß am leichtesten über die Lippen, wenn man nichts mehr zu verlieren hat. Sollten Silvia und Hans doch denken, was sie wollten, wichtig war nur, dass es endlich raus war. Malow war dreiundsechzig, da durfte man sich ruhig einmal mit dem eigenen Ende beschäftigen und seiner Seele Luft verschaffen. Wenn man dazu noch im Keller unter einem zusammengestürzten Gebäude saß, erst recht. Schade nur, dass es nun Essig war mit Rom und dem Kolosseum.
    »Glaubst du, meine Frau und mein Kind leben noch?«
    »Bestimmt!«, sagte Malow. »Sie leben und es geht ihnen bestimmt gut. Du erzählst doch immer wieder von deinen Freunden in deinem Wellendingen. Sie werden sich um die beiden kümmern.«
    »Sie werden warten.«
    Wie lang, überlegte Hans, wie lang würden sie auf ihn warten, bis sie ihn für tot erklärten? Ein paar Wochen, Monate, ein Jahr? Und was kam danach?
    Larissa schlief ein. Sie hatte sich müde geweint. Der Schlaf kam wie eine Erlösung und befreite das Kind vorerst von Hunger, Durst und seiner Einsamkeit. Hoffentlich schläft sie und hoffentlich kann sie lan ge schlafen, dachte Silvia, als das Weinen ihrer Tochter erstarb. Hoffentlich muss sie nicht wieder erwachen. Silvia hatte Angst. Sie hatte Angst vor Larissas Erwachen, dem Wei nen und der Verzweiflung ihrer Tochter. Wie gern hätte sie die Kleine in den Arm genommen. Sie wünschte sich, sie hätte damals ih ren Egoismus hintangestellt und auf Larissa verzichtet. Larissas Existenz war bloßer Egoismus. Es gab sie nicht um ihrer selbst willen noch war sie ein Produkt der Liebe. Aber es war das schönste Jahr in Silvias Leben gewesen, dieses Jahr mit ihrem Kind.
    Als Silvia einen Streifen ihres Kleides abriss, wurde Malow wach.
    »Hans? Was machst du?«
    »Ich? Wieso ich? Ich mache nichts!«
    »Ich war’s.« Silvia sprach noch leiser als sonst.
    »Silvia?«
    »Ja!«
    »Was machst du?«
    »Ich …, ich habe ein Stück von meinem Kleid abgerissen.«
    »Ach ja. Willst du dir eine Serviette basteln?«
    »So ungefähr.«
    »Und was heißt das?«, fragte Hans.
    »Ich …, ich habe meine Tage bekommen.« Sie klang verschämt, wie eine Dreizehnjährige, die mit dieser ersten verwirrenden Entdeckung ihrer Weiblichkeit nach langem Überlegen zu ihrer Mutter geht und deren Reaktion fürchtet.
    »Muss das jetzt sein?!« Malow nahm einen Stein und warf ihn auf gut Glück durch den Keller. »Einen blöderen Zeitpunkt konntest du dir wohl nicht aussuchen, he?«
    »Aussuchen?« Konnte ein einzelner Mann wirklich so dumm sein, stand zwischen den Buchstaben. »Glaubst du allen Ernstes, ich mache das auf Knopfdruck?«
    »Was weiß denn ich! Ich weiß nur, dass wir hier unten andere Probleme ha…«
    »Lass gut sein, Malow«, sagte Hans. Er riss einen Ärmel seines Hem des ab und streckte ihn in der Dunkelheit dahin, wo er Silvia vermutete. »Hier, nimm das. Und sag es, wenn du mehr brauchst.«
    »Danke.«
    »Weiber!«
    Als die Dämmerung heraufzog, war das Rauschen der Saale nur noch ein Flüstern aus Tiefen, die es vor ein paar Stunden noch nicht gegeben hatte. Die Geräusche der Nacht verstummten eins nach dem anderen. Die Gefangenen im Keller schliefen. Immer wieder zuckte Hans in seinen Träumen zusammen. Er sprach im Schlaf. Einmal hörte Silvia deutlich den Namen seiner Frau.
    Hans Seger erwachte. Jetzt war er für den nahen Tod

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