Rau ist die See ...
auswählte. Es gab an Bord eine Boutique, die erstklassige Marken führte. Wenn Jade dort Herrenkleidung kaufte, würde das bestimmt keinen Verdacht erregen. Die Verkäuferinnen würden annehmen, dass sie für ihren Freund daheim shoppte – und nicht für einen blinden Passagier, den sie erst seit fünf Minuten kannte!
Nachdem Jade die Malutensilien zurückgebracht und den Schlüssel zurückgegeben hatte, musste sie den Karaoke-Abend vorbereiten. Es dauerte, bis alles fertig war. Und bevor es losgehen würde, stürmte Jade kurz entschlossen in die Boutique.
Wenn sie zu lange zögerte, würde sie doch noch Angst vor der eigenen Courage bekommen. Und genau das wollte Jade nicht. Sie entschied sich für eine Marken-Jeans, ein Sweatshirt und einen Windbreaker. In diesem Outfit würde Peter kein Aufsehen an Bord erregen, wenn er nicht gerade beim Captain’s Dinner erschien, wo Abendgarderobe erwünscht war. Was die Kleidergrößen anging, musste Jade raten. Weil Peter von der Figur her sehr ihrem Exfreund ähnelte, orientierte sie sich an dessen Kleidergröße. Jade hoffte nur, dass Peter einen besseren Charakter als ihr Ex hatte.
„Mein Gott, wie spießig!“
Jade zuckte zusammen, als sie plötzlich die eiskalte Stimme von Roxanne hörte. Das Model starrte auf die Kleidungsstücke in Jades Händen, als hätte sie tote Ratten gesehen.
Jades Herz raste. Sie versuchte, einen möglichst neutralen Tonfall anzuschlagen. „Meinem Freund gefällt dieser Stil, Roxanne. Die Geschmäcker sind eben verschieden.“
„Das kann man wohl sagen. Und wenn du selbst deinem Freund gefällst, dann muss er ja wirklich ein totaler Versager und Blindgänger sein. So gesehen passen diese Sachen optimal zu ihm.“
Jade wusste, dass Roxanne sie nur provozieren wollte. Wahrscheinlich war sie auf eine Revanche aus und hoffte, dass Jade diesmal als Erste zuschlug. In dem Fall wäre Jade ihren Job sofort los. Und genau aus diesem Grund ließ sie sich nicht herausfordern. Äußerlich gelassen, zuckte sie die Schultern. „Du hast recht, Roxanne. Ich wünsche dir noch einen schönen Abend. Ich würde mich freuen, dich beim Karaoke-Event begrüßen zu können.“
Daraufhin riss Roxanne die Augen auf, murmelte, dass es nichts Peinlicheres als Karaoke gäbe, und rauschte davon.
Jade war erleichtert, sich aus der brenzligen Situation so schnell gerettet zu haben. Lächelnd schaute sie auf die Uhr. Fast noch eine Stunde bis zum Beginn der Abendveranstaltung.
Sie brachte die Sachen für Peter in ihre Kabine. Dann holte Jade das Videotagebuch aus ihrer Reisetasche.
Jade wollte mehr über Ann und deren Schicksal erfahren. Zuletzt hatte sie die Tagebuch-Aufzeichnung gesehen, in der Ann von ihrer Begegnung mit dem Vermummten berichtet hatte. Da war Ann bereits sehr verängstigt gewesen. Aber als Jade nun erneut das Gerät einschaltete und auf das Display schaute, erkannte sie, dass sich Anns Furcht zu nackter Panik gesteigert hatte.
Anns Blick war unstet, sie war fahrig und kreidebleich. Die ersten Worte konnte Jade kaum verstehen, weil Ann so leise sprach. „Heute habe ich ihn schon wieder gesehen. Ich glaube, ich weiß jetzt, wer er ist. Er schleicht nachts durch das Schiff. Ich weiß nicht, wonach er sucht. Aber er hat einen Helfer. Oder besser gesagt, er hatte ihn. Ach, verflixt nochmal …“
Ann bekam einen Heulkrampf. Minutenlang war nur zu sehen, wie sie die Hände vor das Gesicht schlug. Ihre Schultern zuckten, sie bekam kein deutliches Wort heraus. Ann zerknüllte ein Taschentuch zwischen ihren Fingern. Als sie die Hände wieder sinken ließ, waren ihre Augen rotgeweint.
„Ich habe keine Ahnung, was er im Schilde führt. Aber er hat heute Nacht seinen Komplizen verschwinden lassen – und zwar für immer. Er hat ihn mit einem schweren Werkzeug erschlagen, dann hat er ihn über Bord gewuchtet. Ich weiß nicht, ob der Mann noch gelebt hat. Falls ja, dann ist er bestimmt im kalten Wasser ertrunken. Das war eiskalter Mord.“
Ann schwieg einige Augenblicke lang.
Jade konnte kaum glauben, was sie soeben gehört hatte. Ann war also Augenzeugin eines Gewaltverbrechens hier auf der MS Kyrene geworden! Aber warum hatte sie den Namen des Täters nicht genannt? Offenbar hatte Ann gewusst, wer er war …
Jade sah, wie Ann auf der Aufnahme tief durchatmete. Sie schien sich wieder halbwegs beruhigt zu haben. „Mir wird das alles zu heftig. Ich werde zum Kapitän gehen und ihm berichten, was ich gesehen habe.“
Nach dieser Aufzeichnung
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