Rau ist die See ...
fühlte sie sich einfach wohl. Aber wie sollte sie ihn finden? Er verbarg sich irgendwo auf der MS Kyrene. Und sie konnte den blinden Passagier ja schlecht über die Bordlautsprecher ausrufen lassen.
Das schlechte Wetter bescherte Jade eine unfreiwillige Auszeit. Denn den Passagieren stand der Sinn nicht nach Unterhaltung, Sport und Kreativität. Die Bistros und Restaurants an Bord wirkten verwaist, offenbar hatte die Seekrankheit vielen den Appetit genommen.
Henry hingegen hatte alle Hände voll zu tun. Er rannte hin und her, brachte den Passagieren Tabletten gegen Übelkeit oder frische Handtücher. Daher stimmte er begeistert zu, als Jade ihm spontan ihre Hilfe anbot. Sie wollte und konnte einfach nicht untätig herumsitzen, während sich andere abrackerten. Außerdem würde die Arbeit ihr gewiss helfen, sich von ihren Problemen abzulenken. Bisher hatte es immer funktioniert.
„Du könntest dort aus der Wäschekammer Handtücher holen, Jade, und sie in den Innenkabinen Nummer 300 bis 330 verteilen. Damit wäre mir schon sehr geholfen.“
„Klar, Henry. Kein Thema.“
Voller Tatendrang machte sie sich ans Werk. Auf dem Weg musste Jade über sich lächeln. In der kurzen Zeit an Bord hatte sie gelernt, breitbeinig wie ein Seemann zu gehen. Das sah zwar nicht sehr elegant aus, aber bei dem ständigen Schaukeln und Schlingern des Schiffs konnte sie sich so sicher bewegen.
Als sie die Wäschekammer gefunden hatte, öffnete sie die Tür. Jade zog einen Stapel Handtücher aus einem Schrank. Da fühlte sie plötzlich etwas Hartes.
Stirnrunzelnd legte sie die Handtücher in ein anderes Regal. Sofort musste sie an die verschwundenen Juwelen denken. Konnte es so einfach sein? Hatte der Dieb die Beute zwischen die Wäschestücke geschoben? Nein, das wäre ja zu dumm. Die Handtücher wurden regelmäßig gewaschen und nachgefüllt. An Bord der MS Kyrene herrschte peinliche Sauberkeit. Und da der Diebstahl schon einige Zeit zurücklag, wäre die Beute schon längst entdeckt worden.
Tatsächlich fand Jade zwischen den Handtüchern nicht den gesuchten Schmuck. Stattdessen entdeckte sie dort Anns Videokamera und ihr eigenes Notebook.
Jade war erstaunt. Unwillkürlich warf sie einen Blick über die Schulter und atmete erleichtert auf. Natürlich stand hinter ihr kein vermummter Mörder. Jade musste über sich selbst grinsen.
Jetzt konnte sie mit dem Beweisstück zum Kapitän gehen!
Aber war das wirklich klug? Sie konnte Roxanne immer noch nichts beweisen, denn Ann hatte den Namen des Täters ja nicht genannt. Außerdem mochte Roxanne eine hysterische Zicke sein, aber sie war immer noch eine Passagierin. Jade konnte sich die Reaktion des Kapitäns vorstellen, wenn sie Roxanne nicht nur des Einbruchs in ihre Kabine, sondern auch des Mordes bezichtigte.
Schweren Herzens schob Jade die Videokamera und das Notebook zwischen die Wäschestapel zurück, legte die Handtücher zurück und nahm welche aus einem anderen Fach. Sie musste Roxanne in Sicherheit wiegen, das war für sie selbst am sichersten.
Sie begann mit dem Verteilen der Tücher. Die meisten Passagiere sahen sterbenselend aus. Jade fühlte sich auch nicht besonders gut, aber aus anderen Gründen.
Wie gern sie jetzt mit Henry über alles gesprochen hätte! Seine Meinung war ihr wichtig. Aber sie konnte ihm doch nicht unter die Nase reiben, dass Roxanne und Nelligan ein Liebespaar waren. Henry betete Roxanne schließlich an. Es war schlimm genug für Henry, falls er es selbst herausfand. Jade brachte es nicht über das Herz. Sicher wäre es besser für ihn, die Wahrheit zu erfahren. Aber Jade wollte diese Botschaft nicht überbringen – von ihrem Mordverdacht gegen Roxanne ganz zu schweigen.
Ihre ganze Hoffnung ruhte auf Ann. Wenn sie erst gefunden war, würde sie erzählen, wer sie entführt hatte. Dann musste Henry die Augen vor der Wahrheit öffnen, Roxanne und Nelligan würden festgenommen werden, und alles wäre gut.
Jade spürte deutlich, dass Ann noch lebte und an Bord war. Es war verrückt, und sie hätte diese Empfindung auch nicht erklären können. Aber sie wusste es einfach.
Als sie Henry nicht weiter helfen konnte, begann sie damit, sich im Schiffsrumpf umzusehen. Sie klopfte gegen die Wände von Vorratsräumen und rief leise Anns Namen. Doch schon nach kurzer Zeit wurde Jade klar, wie stümperhaft sie vorging. Sie musste die Bereiche des Schiffs nacheinander absuchen. Sonst bestand die Gefahr, dass sie in einigen Räumen doppelt und dreifach, in
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