Raue See
den vergangenen beiden Wochen hatte sie, soweit die Akten noch verfügbar waren, ihre gesamte berufliche Karriere aufgearbeitet. Und jeden einzelnen Fall, den einen intensiver, den anderen weniger intensiv dahin gehend analysiert, ob ein Verurteilter ausreichend Wut auf sie entwickelt haben könnte, um sie lächerlich zu machen. Denn darauf, da waren Bergmüller und sie sich einig, zielte seine Aktion ab.
Der, der ihr als Erstes eingefallen war, saß derzeit noch in der Psychiatrie. Wohlbehütet und -bewacht, wie man ihr auf ihre Nachfrage versichert hatte. Der Rest war eine Sisyphusarbeit. Es war schon erstaunlich, wie vielen Menschen sie in nun bald fünfundzwanzig Jahren Polizeiarbeit nachhaltig auf die Füße getreten war. Einige davon waren inzwischen verstorben, andere lebten im Altersheim und litten an Demenz. Wieder andere saßen immer noch im Knast. Sie alle schieden als Täter aus.
Die meiste Zeit jedoch war dafür draufgegangen, jeden, der noch übrig blieb, zu überprüfen. Sie hatte sich nicht auf ihr Gefühl verlassen wollen. Es war aber gar nicht so einfach, jemanden als Täter auszuschließen, wenn sie weder das Opfer noch den genauen Zeitpunkt, geschweige denn den Tatort kannte. Sie hatte also die gleichen Hypothesen aufstellen müssen wie ihre Kollegen. Hypothese eins war: Die Taten wurden in Rostock und Umgebung begangen. Hypothese zwei lautete: Die erste Tat wurde zwischen dem 9. und dem 13. Juni begangen, die zweite zwischen dem 23. und dem 27. Juni.
Beide Hypothesen basierten auf demselben Indiz: Die vom Täter in die Kamera gehaltenen Ausgaben der »Norddeutschen Neuesten Nachrichten« waren vom 9. beziehungsweise 23. Juni, die Briefe mit den DVD s waren am jeweils darauffolgenden Mittwochmorgen bei der Polizei eingegangen. Die Rostocker Lokalausgabe der »Schweriner Nachrichten« wurde darüber hinaus nur in Rostock und Umgebung vertrieben, was einen Tatort in der näheren Umgebung zumindest wahrscheinlich machte.
Eine ganze Reihe von Menschen aus ihrem immer noch unübersichtlichen Fundus war ausgeschieden, weil sie sich in den fraglichen Zeiträumen so weit weg von Rostock aufgehalten hatten, dass eine Täterschaft vorerst ausgeschlossen werden konnte. Es blieben noch acht Personen, die als Täter in Frage kamen, die sie aber noch nicht überprüft hatte.
»Danke, Frau Kollegin, ausgezeichnete Arbeit«, sagte Bergmüller nach ihrer Zusammenfassung.
Wiebke meinte, sich verhört zu haben. Bergmüller lobte sie. Das gab es doch gar nicht, vor allem bei der Laune, die er heute hatte. Nun, es geschahen eben noch Zeichen und Wunder.
»Ich glaube aber dennoch, dass …« Weiter kam sie nicht. Der wachhabende Kollege erschien in Begleitung einer in Braun gekleideten Person. Die schnaufte vor Wut, denn sie trug Handschellen. So etwas war dem UPS -Mitarbeiter in seinen vier Jahren bei dem Paketdienstleister noch nicht passiert. Er hatte nur ein Paket abgeben wollen und war festgenommen worden.
»Der Herr hier«, sagte der Polizist ungelenk, »ist gerade erschienen und gab an, ein Päckchen für Frau Menn zu haben.« Man merkte dem Mann an, dass es ihm äußerst unangenehm war, vor so vielen Menschen zu sprechen. »Da Sie, Herr Polizeirat«, er deutete auf Zielkow, »mir den Befehl gegeben haben, jeden, der etwas abgeben will, aufzuhalten, habe ich die Person sofort festgenommen. Das Paket habe ich sichergestellt.«
»Wo ist es?«, fragte Bergmüller ungehalten.
»Unten bei mir in der Loge.«
»Sofort holen!«, bellte Bergmüller. »Nein, nicht Sie«, brüllte er den Beamten an, der sich anschickte loszulaufen. »Sie bleiben hier. Kollege Franck, Sie sichern das Paket und bringen es nebst Röntgenscanner her. Aber ich darf darum bitten …«
»… dass ich Handschuhe trage. Ist doch klar, Herr Bergmüller.«
Zielkow wirkte irritiert. »Wozu brauchst du einen Dokumentenscanner?«, fragte er, während Franck hinauseilte.
»Ich will nicht auch noch nach dem Mörder einer Polizistin suchen müssen, der gerade eine Paketbombe um die Ohren geflogen ist«, erwiderte Bergmüller genervt. Den Zusatz »Du Vollidiot« sparte er sich. »Und Sie«, fuhr er den wachhabenden Beamten an, »machen den Mann da los!«
»Aber Herr Zielkow hat doch gesagt …«
»Aufhalten, hat er gesagt. Nicht gleich festnehmen. Den Unterschied sollte man Ihnen auf der Polizeischule beigebracht haben.«
Erleichtert rieb sich der UPS -Mann die Handgelenke, nachdem ihm die Stahlfesseln abgenommen worden
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