Raue See
gestern begonnen und war heute Morgen um sieben Uhr fortgesetzt worden. Selbst Zielkow war anwesend. Er machte sich im wichtigsten Fall, den die Kriminalpolizei in Rostock zu bearbeiten hatte, offensichtlich gern selbst ein Bild vom Fortschritt der Ermittlungen, statt sich nur auf die Berichte zu verlassen. Doch die Stimmung war angespannt. »Meine Damen und Herren, sind wir ehrlich. Viel haben wir in den zwei Wochen, die diese Soko bereits besteht, nicht erreicht. Das lässt mich für heute nichts Gutes ahnen.«
»Wieso, was ist denn heute?«, fragte Carsten Franck unvorsichtigerweise.
»Heute, Herr Kollege, ist Mittwoch, der 11. Juli. Und wenn Sie, statt im Internet zu surfen, sich ein wenig mit der Aktenlage vertraut gemacht hätten, wüssten Sie, dass der Täter für heute den ›dritten Streich‹ angekündigt hat.« Bergmüller donnerte mit der Faust auf den Tisch. »Was wir nicht verhindert haben!«, brüllte er.
»Entschuldigung, Chef«, entgegnete Franck. »Aber wenn es den dritten Streich wirklich gibt, dann ist er schon passiert. Heute geschieht in dieser Hinsicht gar nichts, außer dass wir informiert werden.«
Das war scharfsinnig, aber ungeschickt, dachte Wiebke. Irgendwie war sie zufrieden, dass sie nun wieder den »alten« Bergmüller erlebte.
»Sie Klugscheißer«, brüllte Bergmüller denn auch erwartungsgemäß. Er blickte in ausnahmslos verschreckte, sogar verängstigte Gesichter, in denen die Hoffnung zu lesen stand, bitte nicht Gegenstand der Predigt zu werden. Er atmete tief ein und aus und sagte in bemüht ruhiger Tonlage: »Kollegen, ich entschuldige mich. Manchmal geht mein Temperament mit mir durch. Dann sage ich Dinge, die ich so nicht meine.«
Wiebke lächelte vorsichtig. Dieser Teil von ihm ist neu, dachte sie. Das hat er vor zwanzig Jahren noch nicht gekonnt. Und im Grunde hatte Bergmüller sogar recht. Was war ihnen in den vergangenen zwei Wochen harter Ermittlungsarbeit denn schon gelungen? Streichers Erkenntnisse beziehungsweise die seines Kontaktes beim LKA über die Opfer und den Täter umfassten heute nicht mehr als das, was er ihnen schon zu Beginn der Ermittlungen hatte liefern können. Wie auch, wo doch der Gegenstand seiner Untersuchungen nach wie vor aus nichts als den beiden Videos bestand, die der Täter massiv manipuliert hatte. Einige Kollegen hatten viel Zeit damit verbracht, den Tatort zu suchen, indem sie systematisch die »lost places« in der Umgebung, also verlassene Industriekomplexe, leer stehende Hallen und so weiter, abarbeiteten. Es war kein Wunder, dass auch hierbei noch keine nennenswerten Ergebnisse zu verzeichnen waren. Schließlich war Rostock als Tatort zwar naheliegend – warum hätte der Täter sonst die »Norddeutschen Neuesten Nachrichten« als Nachweis für den Tatzeitpunkt benutzen sollen? –, aber keineswegs zwingend, die Anzahl der möglichen Tatorte also unendlich. Allein Rostock und der angrenzende Landkreis hatten eine Fläche von rund dreitausendfünfhundert Quadratkilometern. Es war von Bergmüller aber auch unfair, sie deswegen anzumachen. Welchen anderen Ansätzen hätten sie nachgehen sollen? Was erwartete er? Wunder?
Die Kollegen der KTU , die die zugesandten Umschläge, Papierseiten und DVD s auf Spuren untersuchten, hatten alles nur Erdenkliche mit den Unterlagen angestellt. Das Ergebnis war allerdings dünn. Es gab zwar Fingerabdrücke. Allerdings nur auf der ersten Sendung, und die gehörten größtenteils den Kollegen aus dem Haus. Die zweite Sendung war mehr oder weniger klinisch rein, die DVD s Massenware, wie sie in jedem Media Markt oder Saturn zu kaufen waren. Der Film selbst war mit einer handelsüblichen Kamera aufgenommen worden. Zum Typ konnte keine Aussage gemacht werden. Die Gedichte waren auf normales Standard-Kopierpapier – mit einem Gewicht von achtzig Gramm pro Quadratmeter, eine, wie Wiebke fand, durchaus zu vernachlässigende Information – gedruckt worden, der Drucker in beiden Fällen ein Hewlett Packard Inkjet. Der genaue Typ war aber nicht feststellbar, da Hewlett Packard den Druckkopf in verschiedene Modelle eingebaut hatte. All diese Informationen waren weder richtig neu noch richtungsweisend.
Jetzt war sie an der Reihe. Ihr Herz pochte wie wild. Lange hatte sie dieses Gefühl nicht mehr gehabt. Die Angst, im entscheidenden Moment zu versagen. Ihre Zunge klebte am Gaumen. Sie nahm das Wasserglas und trank einen Schluck, wobei sie hoffte, dass niemand das Zittern ihrer Hände bemerken würde. In
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