Raue See
über diese Claudia Voigt in Erfahrung bringen könnt. Streicher, Sie nehmen Kontakt mit den Kollegen in Bayern auf. Lassen Sie sich jede einzelne Spur bestätigen und informieren Sie mich über die Ergebnisse. Muss doch rauszukriegen sein, wer dieser dämliche Maximilian Wilhelm Busch wirklich ist. Was macht die Tatortanalyse?«
Der Kollege holte Luft, kam aber nicht dazu, etwas zu sagen.
»Wenn Sie nichts Konkretes haben, verbrauchen Sie bitte auch keinen Sauerstoff«, bellte Bergmüller. »Wenn wir Bojana Vesely retten wollen, müssen wir rauskriegen, wo der Tatort ist, ist Ihnen das eigentlich klar?«
»Ja, Chef«, sagte der Kollege geknickt und verschwand eiligst, sobald Bergmüller die Besprechung für beendet erklärt hatte.
Wiebke blieb mit Lena sitzen, bis alle aus dem Raum waren.
»Reinhard«, sagte sie zu Bergmüller. »Wir beide wissen, dass Bojana Vesely schon tot ist, wenn er so weitergemacht hat wie bisher.«
»Schon klar«, brummte Bergmüller. »Aber wir haben immer noch eine winzig kleine Chance, dass ihm was dazwischengekommen ist, dass was nicht geklappt hat. Dann können wir ein Menschenleben retten. Diese Chance müssen wir nutzen.«
»Da hast du natürlich recht. Machen wir uns also wieder an die Arbeit.«
»Was anderes bleibt uns ja auch gar nicht übrig«, sagte Reinhard Bergmüller seufzend. Er wirkte nicht glücklich.
ZEHN
Wiebke fiel es unmenschlich schwer, sich zu konzentrieren. Es war Mittwoch, und das ganze Präsidium wartete auf die Nachricht vom vierten Streich. Einige waren unfähig, überhaupt etwas zu tun, und verharrten wie manche Beutetiere aus Angst vor dem Fressfeind in einer Art Schreckstarre. Andere kompensierten ihre Angst, indem sie im wörtlichen Sinne Tag und Nacht arbeiteten. Es gab Kollegen der Soko, die nicht mehr nach Hause fuhren, sondern ein Feldbett in ihrem Büro aufgestellt hatten.
Wiebke verspürte Ohnmacht und musste dennoch stark sein. Ihr gegenüber saßen nämlich zwei Frauen, die alles andere als eine paralysierte Polizistin gebrauchen konnten. Beide waren aschfahl. Die ältere, Wiebke schätzte sie auf Anfang siebzig, hatte rot umränderte Augen. Sie musste stundenlang geheult haben. Neben ihr saß eine Frau in Wiebkes Alter, die wegen der Ähnlichkeit unschwer als die Tochter auszumachen war.
»Danke, dass Sie so schnell kommen konnten«, begann Wiebke das Gespräch. Was sollte sie auch sonst sagen? Danke, dass Sie mir helfen, Ihre Tochter zu identifizieren? Danke, dass ich Ihnen jetzt den Beweis liefern muss, dass Ihre Tochter, die geliebte Schwester, tot ist?
Die beiden Frauen nickten nur. Stephanie Voigt kramte mit zitternden Händen in ihrer Handtasche, fingerte eine Schachtel Marlboro raus und steckte sich eine Zigarette an. Wiebke warf Lena einen Blick zu, und ihre Kollegin organisierte einen Unterteller als Aschenbecherersatz. Es war Wiebke unmöglich, Stephanie Voigt zu erklären, dass das Präsidium eine rauchfreie Behörde war.
»Was ist mit Claudia passiert?«, fragte diese jetzt mit tränenunterdrückter Stimme. »Ist sie wirklich tot?«
Wiebke wusste nicht, was die Kölner Kollegen den beiden Frauen gesagt hatten. Vermutlich waren sie nicht sehr feinfühlig gewesen, dem Zustand der beiden nach zu urteilen.
»Ich muss Sie zunächst etwas fragen«, sagte Wiebke. Sie holte ein Blatt hervor, eine Vergrößerung aus dem Video des dritten Streichs. Außer dem Oberarm mit dem Tattoo war nichts zu sehen. »Hatte ihre Schwester diese Tätowierung auf ihrem linken Oberarm?«
Die Frauen betrachteten das Bild. Beide nickten und sagten lange Zeit nichts. Dann ergriff Gisela Voigt das Wort.
»Werner war Claudias große Liebe. Mit Anfang zwanzig hatte sie sich in den Kopf gesetzt, mit ihm auszusteigen. Sie wollten auf einer griechischen Insel einen Surfladen aufmachen. Zum Zeichen ihrer ewigen Liebe hat sie sich dieses Tattoo stechen lassen.«
»Und wo ist Werner jetzt?«
»Er ist damals bei einem Tauchunfall ums Leben gekommen. Claudia ist nie richtig darüber weggekommen. Sie hatte seither nie mehr einen festen Freund. Sie kam zurück nach Deutschland, schrieb sich an der Uni ein und wurde Lehrerin.«
Stephanie Voigt wies auf den Ausdruck. »Dann ist sie also tot«, stellte sie fest.
»Ja, davon müssen wir ausgehen. Es tut mir sehr leid.«
»Wie ist sie gestorben?«, fragten die beiden Frauen fast unisono.
Wiebke hatte diese Frage gefürchtet. Was sollte sie sagen? Sollte sie ihnen gar den Film zeigen, der selbst hartgesottenen
Weitere Kostenlose Bücher