Raue See
teilte Wiebkes Einschätzung und verkündete den allgemeinen Feierabend.
Sie verabschiedeten sich und verließen das Büro. Wiebke ging zu ihrem direkt am Präsidium geparkten Dienstwagen. Sie sah im Rückspiegel, wie sich Lenas Cordoba entfernte. Als sie gerade den Zündschlüssel ins Schloss stecken wollte, fiel ihr auf, dass hinter dem Scheibenwischer ein kleiner Umschlag steckte. Sie öffnete die Fahrertür, stieg halb aus, fingerte den Umschlag hervor und ließ sich wieder in den Fahrersitz fallen. »An die dumme Kuh«, musste sie lesen. Böse Ahnungen kamen hoch.
Sie riss den Umschlag auf und hielt einen Zettel in der Hand. »Schließfach Nummer 346 Bahnhof Rostock«, stand darauf.
Die nächsten Handlungen erfolgten automatisch. Wiebke platzierte das Blaulicht auf dem Wagendach, startete den Motor und fuhr mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Hauptbahnhof. Während der Fahrt informierte sie Bergmüller.
* * *
Als Bergmüller mit fast allen anderen Mitgliedern der Soko den Hauptbahnhof betrat, stritt sich Wiebke lautstark mit dem für die Schließfächer zuständigen Mitarbeiter der Deutschen Bahn.
»Und wenn Sie tausendmal Kriminalhauptkommissarin sind, ohne richterlichen Beschluss öffne ich das Schließfach nicht. Ich habe meine Vorschriften«, sagte der Mann.
»Sie können mich mit Ihren Vorschriften am Arsch lecken«, brüllte Wiebke. »Ich muss an den Inhalt dieses Schließfachs!«
Demonstrativ verschränkte der Mann die Arme vor der Brust. »Ohne Beschluss geht hier gar nichts.«
Reinhard Bergmüller trat hinzu, legte Wiebke beruhigend die Hand auf die Schulter und blickte dem Mann tief in die Augen.
»Wer sind Sie?«, fragte er.
»Hahne«, sagte der Mann. »Gerold Hahne.«
»Gut, Herr Hahne. Ich bin Kriminaldirektor Bergmüller vom LKA . Ich weise Sie jetzt an, dieses Schließfach zu öffnen.«
»Wie ich Ihrer Kollegin schon sagte, benötige ich dafür einen richterlichen Beschluss. Nach Ziffer …«
»Sie halten jetzt Ihren Mund«, brüllte Bergmüller. »Wir verfolgen einen Serienmörder, wie Sie vielleicht in der Zeitung gelesen haben. Sollten Sie nicht augenblicklich dieses Fach dort für uns öffnen, lasse ich Sie wegen Behinderung polizeilicher Ermittlungen festnehmen.«
Wiebke wusste, dass Bergmüller bluffte. Aber Hahne schien endlich beeindruckt und machte das Schließfach auf. »Auf Ihre Verantwortung«, murmelte er dabei mehrmals.
Im Schließfach Nummer 346 lag, in gewisser Weise verloren wirkend, ein handelsüblicher brauner Briefumschlag, etwas größer als eine DIN - A 4-Seite. Sonst nichts.
»Franck«, rief Bergmüller.
»Ja?«, sagte Carsten Franck.
»Sie sichern den Umschlag und scannen ihn, wir treffen uns im Konferenzraum.«
»Jawohl.« Franck zog Einweghandschuhe über und machte sich an die Arbeit. Bergmüller verteilte weitere Aufgaben an die Kollegen von der Spurensicherung, die anfingen, den Fundort nach verwertbaren Hinweisen abzusuchen. Ein anderer Kollege machte sich mit dem immer noch verdatterten Gerold Hahne auf den Weg, um die Aufnahmen der Überwachungskamera zu sichern.
Wiebke überkam schon wieder das Gefühl, nur das fünfte Rad am Wagen zu sein. Wozu brauchten sie sie denn? Bergmüller machte das prima, sie stand immer nur dabei. Aber der Täter wollte unbedingt, dass sie ermittelte. Ob das doch der Schlüssel war? Wie ein Eisenring legte sich die Erkenntnis um ihren Hals, dass der Täter Besitz von ihrem Leben ergriff. Ihre Ehe war im Eimer, doch sie konnte sich nicht um ihre Rettung bemühen. Ihren Sohn hatte sie seit Wochen nicht gesehen. Er zwang sie, Jonas von Günter und Randolph versorgen zu lassen, weil er sie wie ein Tier durch die Arena hetzte. Wie sehr wünschte sie sich, dass dieser Alptraum bald ein Ende haben möge.
»Komm, Wiebke«, hörte sie Bergmüller sagen. »Ab ins Präsidium. Das wird heute wohl doch noch eine lange Nacht.«
Keine halbe Stunde später war die Soko im Konferenzraum versammelt. Es fehlten nur diejenigen Kollegen, die noch mit der Spurensicherung im Hauptbahnhof beschäftigt waren. Bergmüller brachte die Runde mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Inzwischen ist, wie wir alle befürchtet haben, der Beweis für den vierten Streich bei uns eingegangen. Der Umschlag enthielt das übliche Gedicht sowie eine DVD .« Er dimmte die Beleuchtung und schaltete den Beamer ein. Auf der Leinwand war nun in großen Lettern Gedicht Nummer vier zu lesen.
»Wer in Dorfe oder Stadt
Eine Freundin wohnen hat,
Der sei
Weitere Kostenlose Bücher