Raue See
höflich und bescheiden,
Denn das mag sie sicher leiden.
Morgens sagt man Guten Morgen,
Hast du etwas zu besorgen?
Bringt ihr, was sie haben muss,
Brötchen, Kaffee‚ einen Kuss.
Findet sie die Schuhe klasse,
Zahlt man gerne an der Kasse.
Gleiches gilt für den Besuch
Im edlen Restaurant ›Vesuv‹.
Auf Knien schenkt man ihr dann einen
Ring, geziert von Edelsteinen,
Den sie trägt wie zum Beweis,
Dass man ihr Sklave ist, auch noch als Greis.
Max und Moritz ihrerseits
Erkennen darin keinen Reiz.
Seht doch nur, welch tolle Sachen
Wir stattdessen mit ihr machen.
Mit scharfem Strahle abgebraust,
Die Peitsche auf sie niedersaust.
Mit Nadeln, Klammern, glühend Eisen
Unsere Macht wir ihr beweisen.
Dann, zu uns’rer Belustigung,
Erlebt sie die Vergewaltigung.
Bald rinnt das Blut gefährlich rot,
Bis schließlich sie ist endlich tot.
Wiebke sucht derweil die Namen
Der um die Ecke gebrachten Damen.
Mit Lena wühlt sie in Akten rum,
Doch auch zwei sind viel zu dumm.
Denn eines wissen wir genau:
Niemals fängt uns eine Frau.
Dieses war der vierte Streich,
Doch der fünfte folgt sogleich.
Wie ihr inzwischen alle wisst,
Dies in vierzehn Tagen ist.«
Das Einzige, was im Konferenzraum zu hören war, war das Atmen der anwesenden Personen. Wiebke versuchte, ruhig zu bleiben. Doch auch die größte Anstrengung konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie fühlte sich schuldig, denn aus welchem hirnrissigen Grund der Täter das auch abzog: Die Frauen starben unter anderem auch deshalb, weil er beweisen wollte, dass sie zu dumm war, ihn zu fangen. Natürlich wusste Wiebke, dass Serienmörder gern mit den Ermittlern spielten, ihnen ihre Macht demonstrieren wollten. Dieser aber wurde persönlich, beleidigte sie und machte sich über ihre Anstrengungen lustig, weitere Opfer vor einem schrecklichen Tod zu bewahren. Mit Widerwillen wartete sie darauf, was jetzt unweigerlich kommen würde.
»Ich kann es Ihnen nicht ersparen«, sagte Bergmüller, während er den Beamer auf den DVD -Player umschaltete. »Wir alle wissen vermutlich schon, was da drauf ist. Es nützt aber nichts.« Mit dem letzten Wort drückte er die Wiedergabetaste der Fernbedienung.
Der Schattenmann zeigte die Ausgabe der »Norddeutschen Neuesten Nachrichten« vom vergangenen Samstag und legte die Zeitung beiseite. Er war bei seiner Vorgehensweise geblieben und ging wie erwartet vor. Doch auch wenn die Pein, die die Frau erleiden musste, dieselbe war wie in den drei Fällen zuvor, empfand Wiebke diesmal viel intensiveres Mitleid und einen wesentlich tiefer gehenden Schmerz. Sie litt noch mehr als sonst unter der unsäglichen Erbarmungslosigkeit, mit der der Täter vorging. Und den Kollegen schien es ähnlich zu gehen.
Das mochte daran liegen, dass die bisherigen Opfer ihnen unbekannte Menschen gewesen waren. So schrecklich das, was sie gesehen hatten, auch war, sie hatten beim Betrachten der Videos keine ihnen bekannten Individuen vor Augen gehabt. Zwischen den Opfern und ihnen bestand keinerlei emotionale Verbundenheit. Beim vierten Streich verhielt es sich jedoch anders. Natürlich kannten sie Bojana Vesely nur aus den Akten. Aber die Frau hatte einen Namen. Sie wussten, wie sie aussah, obwohl ihr Gesicht verpixelt war. Die Frau, die hier gequält und schließlich getötet wurde, hatte eine ihnen bekannte Geschichte. Es war entsetzlich.
Wie schon nach dem Gedicht brauchte es seine Zeit, bis jeder Einzelne wieder zu sich gefunden hatte. Bergmüller tat das einzig Richtige: Er ordnete eine Pause an. Um zweiundzwanzig Uhr dreißig waren jedoch alle wieder versammelt.
Wiebke ließ ihren Blick über die Gesichter der Kollegen gleiten und versuchte, aus ihnen zu lesen, um zu ergründen, was sie wohl dachten. Aber richtig schlau wurde sie daraus nicht.
Bergmüller fragte, was die Kollegen von dem, was sie gesehen und gelesen hatten, hielten. Es kam dabei aber nichts wirklich Verwertbares heraus.
»Wenn ich jetzt sage, dass wir einfach weitermachen müssen«, sagte Bergmüller schließlich, »dann ist das keine Kapitulation. Im Gegenteil: Wir sind in den letzten Wochen weit vorangekommen. Wir kennen die Namen zweier Opfer. Wir haben die Fingerabdrücke und die DNA des Täters. Er spürt unseren heißen Atem. Wir werden ihn kriegen. Wir dürfen nur nicht lockerlassen. Auf geht’s!«
»Nein«, rief Wiebke laut, als die Kollegen sich bereits erheben wollten. »Nein, so geht’s nicht.«
»Was meinst du?«,
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