Raue See
Man sah förmlich, wie ihr klar wurde, dass sie bei Wiebke an einer nicht verheilten Wunde rührte. »Entschuldigung«, murmelte sie.
»Macht nichts«, sagte Wiebke jetzt wieder lächelnd. Manchmal wünschte sie sich ein etwas dickeres Fell.
»Wie geht’s also weiter?«
»Ich habe für die in Betracht kommenden Fälle Spuren angefordert. In Köln beispielsweise wird seit Anfang Juli eine Lehrerin vermisst, deren Auto irgendwo in der Pampa gefunden wurde. Sie ist spurlos verschwunden. Kein Lebenszeichen. In Bayreuth wird eine achtundzwanzigjährige Friseuse vermisst. Sie ist eines Abends nach der Arbeit einfach nicht nach Hause gekommen. Und …«
Lena legte ihr die Hand auf die Schulter, blickte ihr in die Augen und sagte: »Es ist Freitag. Es ist gleich halb zwölf. Wir sind schon die ganze Woche dabei, müde, abgearbeitet und deshalb zu so später Stunde wohl auch nicht mehr besonders kreativ.«
Wiebke brauchte dringend eine Pause, hatte sich aber nicht eingestehen wollen, dass sie trotz des Drucks, der auf ihnen lastete, das Recht dazu hatte.
»Was schlägst du vor?«, fragte sie.
»Wir machen Feierabend, backen eine Pizza auf und trinken Bier.«
Wiebke gab sich einen Ruck. »Okay. Das machen wir. Morgen einen Tag frei, die Birne durchpusten, und am heiligen Sonntag machen wir weiter.«
Lena lächelte dankbar, fuhr den Rechner herunter und löschte das Licht der Schreibtischlampe. Wiebke tat dasselbe, und keine sieben Minuten später saßen beide in Lenas Cordoba und steuerten die Total-Tankstelle in der Erich-Schlesinger-Straße an. Lena wühlte in der Truhe mit den Fertiggerichten und kramte zwei Pizza Salami hervor. Wiebke holte in der Zwischenzeit ein gekühltes Sixpack Radeberger, was Lena mit einem Kopfschütteln quittierte und ein zweites dazuholte.
Um kurz vor halb eins saßen die beiden in Wiebkes Haus, Pizza und Bier vor sich, und aßen erst einmal. Danach kamen sie, wie schon beim letzten Mal, ins Plaudern. Wiebke spürte, wie ihre Seele immer leichter wurde, je mehr sie von ihren Ängsten, Sorgen und Nöten berichtete. Lena war eine gute Zuhörerin. Gut war auch, dass Lena das zweite Sixpack organisiert hatte, denn der Alkohol tat Wiebke, wie sie überrascht feststellte, richtig gut.
Gegen zwei beschlossen die beiden dann, ins Bett zu gehen. Dass Lena wieder hier übernachten würde, war unausgesprochen klar.
»Ich gehe noch duschen vorm Schlafengehen«, sagte Wiebke. »Willst du auch?«
»Das wäre klasse.«
Wiebke zeigte Lena das Gästebad. Sie ging hoch in ihr Badezimmer, zog sich aus und genoss die warmen Wasserstrahlen. Sie frottierte sich trocken, putzte sich die Zähne und legte sich ins Bett.
Es wunderte sie nicht einmal, dass kurz darauf Lena zu ihr ins Bett kroch. Sie spürte den nackten Körper und die warmen, weichen Hände ihrer Freundin.
»Lass es einfach geschehen«, flüsterte Lena, während sie sanft Wiebkes Rücken massierte. Die hatte überhaupt nicht vorgehabt zu protestieren. Sie lechzte nach Nähe, und der Alkohol tat ein Übriges. Sanft streichelte Lena Wiebkes Körper. Wohlige Schauer durchfluteten sie. Das erste Mal seit über einem Jahr erlebte sie wieder erotisches Verlangen. Irgendwann legte Wiebke auch die letzten Hemmungen ab und begann ihrerseits, den Körper neben ihr zu erkunden. Sie berührten sich, schmeckten sich, tasteten sich ab. Ihre Berührungen wurden immer fordernder, ihre Körper verschmolzen. Sie erklommen den Berg der Lust gemeinsam. Wiebke entlud sich in einem befreienden Orgasmus. Als sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte Lena sie immer noch eng umschlungen.
Scheiße, dachte Wiebke. Jetzt bin ich auch noch lesbisch geworden. Als wenn ich nicht schon genug Probleme hätte.
»Du bist nicht lesbisch«, sagte Lena, die ihre Gedanken erraten haben musste. »Du brauchtest nur Zärtlichkeit.« Kurz darauf war sie eingeschlafen.
Wiebke betrachtete Lena im fahlen Schein des Mondes, der durch das Schlafzimmer auf ihr Bett fiel. Sie liebte diese Frau. Ja, wirklich. Anders, als sie einen Mann liebte, aber es war doch Liebe.
* * *
»Quäl dich nicht so«, sagte Lena am Montagmorgen, als Wiebke sich zum wiederholten Mal die DVD mit dem dritten Streich ansah. Verzweifelt versuchte sie, die unkenntlich gemachte weibliche Person aus dem Film mit den Fotos zu vergleichen, die sie von den seit Ende Mai vermissten Personen, die als mögliche Opfer in Frage kamen, hatten.
Vorgestern waren sie den Tag über in der Innenstadt bummeln
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