Raue See
gewesen, hatten Kaffee getrunken, über Männer gelästert und Schuhläden durchstöbert – mit einem Satz: Sie hatten versucht, sich wenigstens einen Tag lang so zu benehmen wie »normale« Frauen. Um einmal nicht daran zu denken, dass vermutlich gerade wieder eine Frau bestialisch gequält und schließlich abgeschlachtet wurde. Dieser Gedanke und ihre Ohnmacht, es zu verhindern, schnürte ihnen – wie allen Mitgliedern der Soko – mehr als nur einmal am Tag den Hals zu.
Am Sonntag waren sie wieder im Büro gewesen, bienenfleißig, aber Honig hatten sie nicht vorzuweisen. Immerhin: Die Anzahl der zu überprüfenden Fälle hatten sie weiter reduziert.
Jetzt saß Wiebke mit ihrer Ausbeute aus den Akten vor dem Fernsehgerät neben ihrem Schreibtisch, spulte den Film vor und zurück und betrachtete immer wieder die Ausdrucke der Fotos. Plötzlich merkte sie auf. Sie wühlte sich durch die Fotos, suchte offensichtlich ein ganz bestimmtes und tippte, als sie es gefunden hatte, ganz aufgeregt mit dem Finger auf eine Stelle. »Lena, komm mal her!«, sagte sie.
Lena stand auf, ging um den Schreibtisch herum und betrachtete das Foto. Es war eine Aufnahme aus einem Sommerurlaub. Eine Frau Ende dreißig, Anfang vierzig lag am Pool eines typischen südländischen Touristenhotels. Die Frau trug eine Sonnenbrille, in der Hand hielt sie einen Longdrink, und lächelte ins Objektiv.
»Das ist Claudia Voigt«, erläuterte Wiebke, »eine Anfang Juli in Köln vermisste, bis heute nicht wiederaufgetauchte Lehrerin. Was fällt dir an ihr auf?«
Lena betrachtete noch einmal intensiv das Foto, zuckte mit den Schultern und sagte: »Keine Ahnung, sag du es mir.«
Wiebke nahm einen Bleistift und deutete auf den rechten Oberarm der Frau. »Siehst du das da?«
Lena legte den Kopf schief und meinte: »Könnte ein Tattoo sein. Das ist aber auf dem Bild nicht eindeutig erkennbar.«
Wiebke nickte. »Stimmt. Aber jetzt schau mal hier.« Sie drehte sich zu ihrem Computer um, öffnete die Datei mit dem Foto und vergrößerte den Bildausschnitt. Jetzt war es eindeutig zu erkennen: Die Frau hatte tatsächlich ein Tattoo auf dem Oberarm, ein Herz, durch den sich ein Pfeil gebohrt hatte. Darunter stand: »Werner – love will last forever.« Sie wandte sich wieder Lena zu. »Offensichtlich war Claudia Voigt vor gut fünfundzwanzig Jahren unsterblich in einen gewissen Werner verliebt.«
»Wie kommst du auf fünfundzwanzig Jahre?«, fragte Lena verwirrt.
»Na, das steht doch da, ins Herz tätowiert.«
Lena betrachtete erneut das Foto. »Da sind Buchstaben«, sagte sie. »Buchstaben, die keinen Sinn ergeben.«
»Doch, die ergeben Sinn«, triumphierte Wiebke. »Dort steht die Jahreszahl in römischen Ziffern: MCMLXXXVII .«
»Die Römer haben Zahlen mit Buchstaben ausgedrückt?«
»Haben sie, ja.«
»Wie unpraktisch.«
»Wie dem auch sei«, fuhr Wiebke fort. » MCMLXXXVII steht für 1987, und das ist fünfundzwanzig Jahre her.«
»Woher kannst du das?«, fragte Lena bewundernd. »Ich meine das mit den römischen Ziffern. Hattest du Latein?«
»Nein«, erwiderte Wiebke. »Aber es muss ja wenigstens einen Vorteil haben, jetzt schon mit dem zweiten Akademiker verheiratet zu sein.«
Lena grinste. »Gut, aber wieso hilft uns das weiter?«
Wiebke suchte eine bestimmte Stelle im Video über den dritten Streich und drückte auf Pause.
»Unser Täter hat ihr Gesicht unkenntlich gemacht, damit wir die Frau nicht identifizieren können. Aber schau hier, auf ihrem Oberarm. Das ist eine Tätowierung. Auch wenn sie undeutlich ist, die Umrisse sind dieselben.«
Lena betrachtete abwechselnd das Foto und den Bildschirm. »Könnte sein, aber einhundert Prozent sicher bin ich nicht.«
»Dafür haben wir ja Spezialisten«, sagte Wiebke und hatte schon den Hörer in der Hand. Minuten später erschien Streicher, der eine digitale Kopie des Fotos erhielt und versprach, sofort alles Notwendige zu veranlassen.
»Herbert«, rief Wiebke ihm hinterher. »Bitte beeil dich. Die Frau ist tot, der können wir nicht mehr helfen. Aber eine andere können wir vielleicht retten, wenn wir wissen, dass sie das Opfer war, und so an den Täter herankommen.«
»Wiebke, ich weiß«, sagte Streicher nur. Auch er wirkte sehr bedrückt.
Beflügelt von ihrer Entdeckung machten sich Wiebke und Lena wieder an die Arbeit. Doch schon wenig später flog die Tür auf, und ein aufgeregt wirkender Carsten Franck stand im Raum.
»Wir wissen, wer das nächste Opfer werden soll«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher