Raue See
Über DateYourLove.de war auch die Verabredung am Tag ihres Verschwindens zustande gekommen, der geplante Kinobesuch. Der Kommunikationsverlauf hatte ergeben, dass ihr Date ein gewisser Lorenz Pfeiffer war, der in Köln eine Werbeagentur betrieb. Ob er sie umgebracht hatte?
Von wegen. Die alarmierten Kölner Kollegen hatten Lorenz Pfeiffer im Krankenhaus besuchen müssen, wo er nach einem schweren Motorradunfall am 7. Juni bereits seit mehreren Wochen lag. Wiebke hatte herausgefunden, dass der Account von Lorenz Pfeiffer bei DateYourLove.de ein Fake war. Er war über die ID eines Rechners in einem Internetcafé in Bad Doberan angelegt worden, von dem aus auch die Kommunikation erfolgt war. Sie hatten zwar auch diesen Rechner beschlagnahmt, aber viel Hoffnung hegte Wiebke nicht, darüber dem Täter auf die Spur zu kommen. Wieder hatte er sie vorgeführt.
Sicher war bisher nur, dass der Täter, dessen Abdrücke sie im Golf und bei Philippsreut gefunden hatten, vermutlich auch die Morde eins und zwei begangen hatte. Bei der Ermittlung dieser Opfer war sie noch nicht weitergekommen.
Auch die Abdrücke hatten sie nicht weitergebracht. Leider waren es keine polizeibekannten Abdrücke. Mehrfach hatte sie die Daten durch den Computer gejagt. Nur um sicherzugehen, dass sie nichts falsch machte. Doch sooft sie es auch probierte, es gab einfach keine Übereinstimmung. Der Täter war also bislang noch nie ernsthaft mit dem Gesetz in Konflikt gekommen und erkennungsdienstlich behandelt worden.
Noch weniger ergiebig war die DNA des Täters. Diese Daten wurden erst seit wenigen Jahren gesammelt, und es wäre ein reiner Zufall gewesen, wenn sie sie schon in der Datenbank gehabt hätten. Sie bräuchten eine Referenzprobe. Aber wen sollte sie zum Speicheltest vorladen? Alle in Deutschland lebenden Männer zwischen dreißig und fünfzig? Faktisch und rechtlich unmöglich.
Sie hatte eine gewisse Hoffnung gehabt, die Reifenspuren, die sie in Philippsreut gefunden hatten, könnten sie zum Auto des Täters führen. Bis ihr die Spezialisten beim LKA heute Morgen mitgeteilt hatten, dass es sich um die Größe 205/55 R 16 handelte, eine gängige Standardgröße, die an Millionen von Autos verwendet wurde. Hätten sie das konkrete Auto, könnten sie nachweisen, dass es an der Stelle im Wald gestanden hatte. Wenn nicht, dann nicht, erklärte man ihr. Wenn sie das Auto hätte, dann hätte sie auch den Mörder, hatte sie pampig gesagt und aufgelegt, um Minuten später noch einmal anzurufen und sich zu entschuldigen. Sie war einfach am Ende mit den Nerven.
Was sollte sie bloß tun? Es klopfte leise. Sie bat den Besucher herein, und in der Tür erschien Reinhard Bergmüller.
»Hallo, Wiebke«, sagte er. »Wie geht es dir?«
»Beschissen wäre geprahlt«, sagte sie ohne Umschweife.
»Kann ich verstehen«, antwortete er. »Mir geht es auch nicht besser. Jeder Weg, den wir gehen, endet in einer Sackgasse. Bei jeder Schublade, die wir öffnen, greifen wir in die Scheiße. Es ist …«
»Zum Kotzen«, vollendete Wiebke den Satz.
Bergmüller nickte. »Ich wollte dir einen Vorschlag machen«, sagte er. »Du musst nicht, aber ich halte es für sinnvoll, um mal etwas Abstand zu gewinnen.«
»Du machst es aber spannend.«
»Ich habe ein kleines Feriendomizil an der See. Dort liegt auch mein Boot. Ich lade dich ein, dass wir zusammen das Wochenende verbringen.«
»Ich weiß nicht, Reinhard …« Wiebke war unsicher, was sie zu dem Vorschlag sagen sollte. Wollte er sie etwa anmachen?
Bergmüller lächelte amüsiert, Wiebkes Gedanken mussten an ihrem Gesichtsausdruck deutlich abzulesen sein. »Ohne jeden Hintergedanken, ehrlich. Ich meine es ernst. Deine familiäre Situation ist suboptimal, wenn ich das mal so sagen darf. Die Kollegen sind verschnupft wegen deines Misstrauensvotums. Aber du kannst nicht immer allein sein. Und schon gar nicht rund um die Uhr arbeiten.«
Wiebke überlegte. Im Grunde hatte er recht. Natürlich müsste sie sich endlich mal um Jonas kümmern. Aber um Jonas kümmern hieße zugleich, sich mit Günter auseinandersetzen zu müssen. Selbst wenn sie sich mit Randolph und Jonas verabredete, um sich mit ihnen an einem »neutralen Ort« ohne Günter zu treffen, fehlte ihr schlicht die Kraft, ihrem Sohn die treusorgende Mutter zu geben, wenn in ihrem Kopf ständig die Bilder vergewaltigter, gequälter und ermordeter Frauen herumgeisterten. Lena war zwar eine gute Freundin. Sie unterhielt sich auch immer noch gern mit ihr.
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