Raue See
bin ja auch nicht gut sortiert«, sagte er und bestrich eine Mohnbrötchenhälfte mit Butter. »Das übernimmt der freundliche EDEKA -Markt. Der ist sogar sonntags geöffnet. Ich habe deshalb immer nur das Nötigste da. Alles andere kaufe ich frisch.«
»Ich habe mir unter der Dusche was überlegt«, meinte Wiebke nach einer Weile.
»Was hast du dir überlegt?«
»Wir fahren mit deinem Boot.«
»Das ist lieb von dir, Wiebke. Nur, wie ich gestern schon sagte: Du musst dir das nicht antun.«
»Ich tue mir nichts an. Ich war immer gerne segeln und muss langsam wieder ›normal‹ werden. Was kann das Segeln dafür, dass dieser Irre mich ersäufen wollte? Wenn man einen Autounfall hatte, fährt man doch auch wieder. Nein, ich möchte mit dir heute segeln gehen.«
»Dass ich mich freue, muss ich dir nicht sagen.«
Wiebke lächelte zufrieden. Trotz seines Protestes half sie ihm beim Abwasch. Danach holte Bergmüller aus dem Schrank die Segeltuchtasche mit den benötigten Utensilien, und sie machten sich zu Fuß auf den Weg zur Damper Marina. Als sie dort ankamen, war schon viel Betrieb. Kein Wunder, es war Samstag und ein Wetter, das für einen Segelausflug wie geschaffen war. Überall sah man die Skipper ihre Schiffe klarmachen. Manche putzten noch ihr Boot, andere bugsierten die zum Teil recht großen Jachten bereits vorsichtig an der Hafenmeisterei vorbei auf die See.
Wiebke schlug das Herz jetzt bis zum Hals. Der Steg unter ihr schien zu schwanken. Es wurde immer schlimmer, je näher sie dem Boot kamen. Reiß dich zusammen, befahl sie sich immer wieder. Reiß dich endlich zusammen!
Dass Bergmüllers Boot ein ähnliches Modell war wie das, auf dem sie beinahe umgekommen wäre, war an sich kein Wunder. Die Bavaria gehörte zu den am weitesten verbreiteten Hobbysegeljachten. Und die Bavaria 31, die Bergmüller besaß, war so etwas wie der VW Golf der Segler. Besser machte es die Sache für Wiebke allerdings nicht.
Sie wunderte sich selbst, dass sie es schaffte, über den Steg auf das Boot zu gelangen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren und ins Hafenbecken zu plumpsen. Das hätte den Zuschauern, die auf der Terrasse des Ostseehotels ihr Frühstück genossen, sicher gut gefallen. Sie ging zum Bug des Schiffes, setzte sich auf die Beplankung und befahl sich, den Törn zu genießen.
»Können wir?«, fragte Reinhard vom Heck aus.
»Schiff ahoi!«, rief sie und versuchte, locker und lustig zu wirken.
Er löste die Leinen, ließ den Schiffsmotor an und fuhr langsam durch das Hafenbecken. Wiebkes Herz raste immer noch. Zwei kleine Kinder standen am Kai und winkten ihr fröhlich zu. Mechanisch winkte sie zurück.
Gleich würden sie die sichere Umgebung des Hafens verlassen. Wiebke wurde sich der bedrohlichen Weite der offenen See bewusst. Eine Welle brach sich am Bug, und Gischt spritzte in ihr Gesicht. Sie schmeckte das Meerwasser, das sie fast umgebracht hätte. Ängstlich drehte sie sich um und sah ihn: ihren Mörder. In Lebensgröße stand er da. Gleich würde er kommen und ihr Gewichte an die Füße binden, um sie über Bord zu werfen. Sie würden sie langsam nach unten in die Tiefe ziehen. Diesmal wäre Günter nicht rechtzeitig zur Stelle. Diesmal wäre es endgültig.
»Nein!«, brüllte sie. Sie zitterte am ganzen Leib. »Bleib da! Lass mich in Ruhe!«
»Wiebke!«, rief Reinhard.
»Nein, ich will nicht sterben. Lass mich!« Sie sprang über Bord und schwamm wie von Sinnen zurück zum Hafen.
Bergmüller leitete intuitiv sofort das Mann-über-Bord-Manöver ein, besann sich dann aber und ließ sie schwimmen. Sie würde sich von ihm nicht retten lassen. Zum Ufer war es nicht weit, und sie schwamm, wie er durch das Fernglas beobachten konnte, sehr sicher und zielstrebig. Er nahm Kurs zurück auf den Hafen.
Als er am Anlegeplatz ankam, saß sie schon da. Sie hatte ihren Kopf zwischen die angewinkelten Beine gelegt. Schon von Weitem konnte man sehen, dass sie von Heulattacken geschüttelt wurde. Ihr weißes Sommerkleid klebte triefend nass an ihrem Körper. Es war ein mitleiderregendes Bild.
Er machte das Schiff fest und ging an Land. Vorsichtig setzte er sich neben sie, legte seinen Arm um ihre Schulter, zog sie an sich und schwieg. Minutenlang saßen sie so da. Langsam hörten die Heulattacken auf, und Wiebke nahm ihren Kopf hoch.
»Entschuldigung«, murmelte sie.
»Du musst dich nicht entschuldigen«, sagte er.
»Ich bin eine ganz dumme Gans.«
»Bist du nicht.«
»Doch. Ich habe mich überschätzt.
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