Raue See
sein.
Die Geräusche, die aus dem Schlafzimmer im ersten Stock an sein Ohr drangen, waren eindeutig. Wiebke hatte Sex mit einem Mann. Es gefiel ihr, denn er wusste schließlich, wie sie klang, wenn es ihr gefiel.
Er holte sich aus der Küche eine Untertasse, steckte sich eine Zigarette an und wartete im Sessel der Couchgarnitur. Die Zeit verging quälend langsam. Erst hatte er das Haus fluchtartig wieder verlassen wollen. Doch er besann sich und nahm sich fest vor, die Situation so ruhig und sachlich wie möglich zu meistern.
Ein lang gezogener erlösender Schrei ertönte. Es war wie ein Stich in sein Herz. Dann hörte er die typischen Orgasmusgeräusche eines Mannes. Sie waren fertig. Nach ein paar Minuten hörte er Wiebke die Treppe herunterkommen. Als sie ihn sah, schrie sie vor Schreck laut auf.
»Was machst du denn hier?«, fragte sie.
»Ich rauche die Zigarette danach. Auf deinen ersten Orgasmus nach über einem Jahr. Leider ohne mich.« Er inhalierte tief und blies theatralisch den Rauch aus.
Wiebke blickte an sich herunter und sah aus, als schämte sie sich auf einmal ihrer Nacktheit. Ihr Blick fiel auf die Blumen, und an ihrem veränderten Gesichtsausdruck erkannte Günter, dass sie ahnte, was er eigentlich vorgehabt hatte. Sie hatte es gründlich versaut, das war nun amtlich.
»Wer ist denn der Glückliche?«, fragte er mit allem Zynismus, zu dem er in der Lage war.
Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, erblickte Günter auf dem Treppenabsatz den Mann, der – wenigstens angezogen – hinter Wiebke aus ihrem gemeinsamen Schlafzimmer getreten war. Die Situation wurde bizarr, aber sie enthob Wiebke der Antwort, was ihr vermutlich nur recht war.
»Nicht doch ausgerechnet Clint Eastwood«, sagte Günter. Sein Erstaunen und seine tiefe Verletztheit waren unübersehbar.
»Verzeihen Sie, ich verstehe nicht ganz«, meinte Bergmüller irritiert.
»Das war Ihr Spitzname bei uns Staatsanwälten, als Sie noch in Rostock Dienst schoben. Wegen Ihrer, vorsichtig gesagt, rustikalen Verhör- und Ermittlungsmethoden. Ihre Erfolgsquote war beeindruckend, wie ich zugeben muss. Offenbar liegen Ihre Qualitäten aber auch noch auf einem anderen Gebiet.«
»Günter, ich …«, stammelte Wiebke.
»Ach sei ruhig.« Günter erhob sich, drückte die Kippe aus und fummelte seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche. Er entfernte den Haustürschlüssel und gab ihn dem verdutzten Reinhard Bergmüller. »Ich brauche ihn nicht mehr. Vielleicht haben Sie ja Verwendung dafür. Noch ein schönes Leben, Wiebke«, sagte er im Gehen. »Wenn du deinen Fall gelöst hast, kümmern wir uns um die Scheidungsmodalitäten.«
Die Haustür fiel geräuschvoll ins Schloss, und sie hörten den Mondeo mit quietschenden Reifen wegfahren.
Wiebke hatte Tränen in den Augen.
»Geh jetzt bitte und lass mich allein. Wir sehen uns Montag im Präsidium«, sagte sie tonlos. Bergmüller wollte etwas erwidern, doch Wiebke winkte ab. »Bitte geh.«
Er nickte, legte den Hausschlüssel auf den Tisch und wandte sich zum Gehen. Im Flur klingelte sein Handy.
»Das gibt es doch gar nicht«, sagte er aufgeregt, nachdem er eine Weile zugehört hatte. »Wirklich? Wir kommen sofort. Ja, ich informiere die Kollegin.«
»Was ist los?«, fragte Wiebke, die noch immer nackt im Wohnzimmer stand und langsam fror.
»Eine Ukrainerin wurde nach Deutschland gelockt, betäubt und entführt. In der Nähe von Kiel erlangte sie das Bewusstsein wieder und konnte flüchten, während ihr Entführer auf einer Autobahnraststätte pinkeln war.«
»Könnte es unser Täter gewesen sein?«, fragte sie.
»Das wissen die Kollegen auch nicht. Möglich ist es aber. Die Zeugin ist bereits auf dem Weg nach Rostock.«
»Wann war das, das mit der Entführung, meine ich?«
»Die Frau wurde um fünfzehn Uhr zwanzig von der Polizei aufgegriffen.«
»Und warum erfahren wir das erst jetzt?«, fragte Wiebke verärgert. Ein Blick zur Uhr zeigte ihr, dass es schon achtzehn Uhr siebenundvierzig war. Immerhin hatte sie an alle Polizeidienststellen geschrieben, dass jede, wirklich jede Entführung einer Frau sofort an sie zu melden sei.
»Das Opfer spricht praktisch nur Russisch. Die Kollegen mussten erst einen Dolmetscher organisieren.«
»Ich zieh mich an«, sagte Wiebke und war irgendwie froh, dass der Dienst sie von den rauchenden Trümmern ihres Privatlebens ablenkte.
Bergmüller nahm seine Jacke vom Garderobenhaken. »Ich fahr schon mal vor«, sagte er. »Wir sehen uns in ein paar
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