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Raum in der Herberge

Raum in der Herberge

Titel: Raum in der Herberge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Klose
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die Zahl der Pilger ab. Ich fragte
Esperanza, in welchen Monaten es eigentlich am ruhigsten sei.
    „Mitte Dezember bis Ende
Februar“, meinte sie.
    „Und wie ist es Weihnachten?“
    „Oh, da haben wir oft ein bis
zwei Pilger und die laden wir dann zu uns zum Essen ein.“
    Ich stellte mir das schön vor,
mit der Familie zu feiern, andererseits — was mochte jene Pilger wohl bewegen,
ausgerechnet über Weihnachten auf den Camino zu gehen? An einem Nachmittag,
während ich im Aufenthaltsraum noch allein war,
blätterte ich das Gästebuch durch. Ich stieß auf Namen, an die ich mich
erinnerte, auf eine Botschaft von Celine an Roy damals im Juni — und auf eine
Landschaftszeichnung, deren Stil mir bekannt vorkam. Ich sah auf die
Unterschrift — ja es war tatsächlich ein Bild jenes Japaners, der mir in
Mansilla ein Porträt für meine Zimmertür angefertigt hatte. Sein Stil schien
sich noch weiter verbessert zu haben, wieder hatte er Szenen vom Camino
festgehalten, detailgetreu und duftig zugleich. Neben sein Bild hatte er
Folgendes geschrieben:
    „Ich kam hierher, um an meine
Frau zu denken, die vor vier Jahren an Krebs starb. Ich reise mit ihr. Ich
spreche mit ihr. Wenn ein schöner Baum Schatten auf die prächtigen Sommerfelder
wirft, fühle ich, dass sie dort sitzt.
    Das Gestern ist unsere
Geschichte — das Morgen wird stets Geheimnis sein.“
    Wenn das nicht ergreifend war —
ich konnte nicht anders, ich musste einfach weinen.
    Ich erinnerte mich mit einem
Mal wieder an Ann, eine liebenswerte ältere Dame aus Südafrika, die ich auf
meiner Pilgerreise getroffen hatte. Sie war damals etwa ein Jahr verwitwet.
    „Ich mache den Camino mit
meinem verstorbenen Mann“, sagte sie einmal, als wir über sehr Persönliches
miteinander sprachen. „Wir sind zu seinen Lebzeiten viel gewandert und ich habe
das Gefühl, er geht jetzt mit mir. Aber gleichzeitig ist dieser gemeinsame Weg
unser endgültiger Abschied voneinander, zumindest in diesem Leben.“
    Das war mir nahe gegangen,
trotzdem traute ich mich nicht, Ann zu gestehen, dass ich Ähnliches erlebt
hatte.
    Auf einem einsamen Stück Camino
irgendwo in der Provinz Burgos hatte ich plötzlich das Gefühl gehabt, nicht
allein zu sein — und dieses Empfinden war so konkret, so überwältigend, dass
ich kaum atmen konnte und es mir die Tränen in die Augen trieb. Ich wusste
genau, wer bei mir war — mein Vater, damals vor zwei Jahren gestorben, meine
Mutter, schon lange tot, meine Großeltern, die ich früh verloren, meine
Vorfahren, die ich nie gekannt hatte — sie alle gingen hinter mir.
    Wenn ich mich jetzt umdrehe,
werde ich nichts sehen als die abgemähten Felder und den leeren Camino, dachte
ich, und doch weiß ich genau, dass sie da sind.
    Sie begleiteten mich, bis das
nächste Dorf in Sicht kam, dann fühlte ich, wie sie sich zurückzogen, ich war
wieder allein. Damals konnte ich mit diesem Erlebnis nicht umgehen, schob es
auf die Hitze, obwohl ich es besser wusste, verdrängte es schließlich.
    Ich musste erst mehrmals zum
Camino zurückkommen, hören und es vor allem schwarz auf weiß lesen, wie
selbstverständlich andere mit ähnlichen Erlebnissen umgingen, um zu erkennen,
dass jene Begebenheit auf den einsamen Feldern damals nichts war, das mir
peinlich sein musste, sondern für das ich dankbar sein sollte.
    Psychologen mögen jene
Begegnung vielleicht als eine Projektion meines Unterbewusstseins werten — und
wenn schon! Meine Vorfahren waren gekommen, um mich ein Stück Wegs zu
begleiten, mir den Rücken zu stärken, indem sie hinter mir gingen — war es da
etwa von Bedeutung, wie diese Vision zustande kam?
    Das typische Klick-Klack von
Wanderstöcken draußen im Hof riss mich aus diesen Betrachtungen. Die ersten
Pilger dieses Tages kamen an, die auch die einzigen bleiben sollten — eine
Mutter mit ihrem Sohn aus dem Baskenland, sie um die sechzig, er etwa halb so
alt. Die beiden machten es sich vor dem Kamin gemütlich und genossen es, die
Herberge für sich allein zu haben.
    Anders als im Frühjahr, wo ich
zahlreiche Ersatz-Eltern-Kind-Kombinationen beobachtet hatte, waren jetzt
tatsächlich einige Väter oder Mütter mit Sohn oder Tochter auf dem Camino. Mir
fiel auf, wie liebevoll diese Eltern-Kind-Paare miteinander umgingen, und mir
schien auch, dass sie stolz darauf waren, den Weg miteinander zu gehen.
    „Ja das stimmt“, bestätigten
Neil und Kate, Vater und Tochter aus England, die einige Tage zuvor in der
Herberge abgestiegen waren,

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