Raum in der Herberge
Verantwortlichen in den Pilgerherbergen.
Herbergseltern würde man sie im Deutschen nennen, aber diese Übersetzung fand
ich unbefriedigend, weckte sie doch Assoziationen an den Geruch von Kernseife,
Bohnerwachs und Muckefuck in den spartanischen Jugendherbergen meiner
Teenagerjahre. Darüber kam mir die Bezeichnung „Herbergseltern“ auch deshalb
unpassend und sogar unfreiwillig komisch vor, weil die Hospitaleros oft viel
jünger waren als die von ihnen betreuten Pilger.
Die
junge amerikanische Hospitalera, die herzlich wenig von einer Herbergs-„Mutter“
an sich hatte, lud uns jedenfalls ein, die Albergue, in der sie Dienst tat,
anzusehen — eine hübsch gestaltete, angenehme Unterkunft für etwa drei Dutzend
Pilger. Während sie uns herumführte, erläuterte sie ihre Pflichten. „ Credenciales abstempeln, die Daten der Pilger in ein Buch
eintragen, jeden Tag hier alles sauber machen, Blasen verarzten, gute Ratschläge geben. Im Grunde ist man als Hospitalera
eine Art Mädchen für alles.“ Unterdessen ging mir der Satz „dem Camino etwas
zurückgeben“ nicht aus dem Kopf und ich ahnte bereits zu diesem frühen
Zeitpunkt meiner Pilgerreise, dass er irgendwann auch für mich gelten, dass
auch ich den Wunsch verspüren könnte, dem Weg etwas zurückgeben zu wollen.
Wieso
ausgerechnet dem Camino? Ich war in meinem Leben schon viel und weit gewandert,
Trekkings durch Nepal, von Hütte zu Hütte durch die Alpen — all diese Touren
hatten mir gefallen, mich beeindruckt und meinen Horizont erweitert — doch nie
hatte ich nur ansatzweise das Bedürfnis empfunden, dem jeweiligen Weg etwas
zurückgeben zu wollen. Aber der Camino ist eben kein Weg wie andere und jeder,
der ihn gepilgert ist, wird das bestätigen.
Zunächst
einmal ist er sehr lang — rund 750 Kilometer von den französischen Pyrenäen bis
nach Santiago de Compostela. Vier bis sechs Wochen braucht der durchschnittlich
trainierte Wanderer für diese Strecke. Manche beginnen ihre Pilgerreise sogar
direkt bei sich Zuhause , wo immer das sein mag, ganz
Europa ist quasi von einem Netz von Jakobswegen überzogen. In
Saint-Jean-Pied-de-Port beziehungsweise Somport fließen viele dieser Pfade zu
zwei Hauptwegen zusammen, welche dann über die Pyrenäen führen und sich in
Puente la Reina zu jener Route vereinigen, die für viele den Jakobsweg
schlechthin darstellt. Diese Strecke ist die bekannteste und meistgenutzte und
wird auch Camino Francés, Französischer Weg, genannt, weil sie von
Frankreich nach Santiago geht. Sie führt durch unterschiedlichste Landschaften,
über hohe Berge und sanfte Hügel, durch grüne Wälder und kühle Flusstäler, über
karge Hochebenen und fruchtbare Felder, neben belebten Fernstraßen entlang und
auf schmalen Saumpfaden durch einsames Land. Sie durchquert moderne
Industriezonen mit langweiligen Fabrikgebäuden und hässlichen Schrotthalden
ebenso wie historische Städte mit malerischen Plätzen und prächtigen Kirchen
oder verwunschene Dörfer, in denen die Zeit stehen geblieben scheint.
Mir
selbst kam es auf diesem Weg vor, als wanderte ich durch ein Bilderbuch, in dem
Geographie und Geschichte Nordspaniens lebendig aufgeblättert würden.
Doch
andere Routen — wie etwa die europäischen Fernwanderwege — sind ebenfalls lang,
abwechslungsreich und geschichtsträchtig — trotzdem haben sie nicht diese sehr
spezielle Faszination des Camino.
Dass
dieser Camino ein ganz besonderer Weg sein musste, dämmerte mir bereits, als
ich verschiedene Gewährsleute anrief, die ihn gepilgert waren, um Informationen
für meine eigene Pilgerreise zu bekommen. Diese Bekannten von Bekannten hatte
ich bis dahin weder gesehen noch gesprochen, doch die Bitte um praktische
Ratschläge für den Jakobsweg wirkte wie ein Zaubercode oder wie das Losungswort
für den Eintritt in einen Geheimbund. Voller Enthusiasmus und ohne jegliche
Zurückhaltung berichteten mir diese wildfremden Menschen ausführlich von ihren
Erfahrungen und teilweise sogar sehr persönlichen Erlebnissen. Eine Offenheit,
die mich erstaunte und gelegentlich gar etwas seltsam berührte, wobei ich nicht
ahnte, dass ich nach meiner Pilgerreise ähnlich reagieren, beim Stichwort
„Camino“ ebenso offen und überschwänglich mein gesammeltes Wissen über den Weg
heraussprudeln würde.
Damals
kam es mir jedenfalls vor, als hafte diesem Camino, über den sich meine
Gewährsleute in epischer Breite ausließen, etwas Magisches an. Was tatsächlich
so ist — doch das wurde mir
Weitere Kostenlose Bücher