Raum in der Herberge
Gelübde“, hörte ich einmal einen jungen Spanier auf die Frage eines anderen
Pilgers antworten, warum er den Camino mache. Der nickte daraufhin
verständnisinnig, als sei es bei ihm derselbe Grund. Ich wunderte mich
insgeheim, denn mit ihrem betont sportlichen Auftreten wirkten die beiden
jungen Männer eher, als machten sie den Jakobsweg aus Fitnesserwägungen. So
konnte man sich täuschen, die Pilger in dieser Jahreszeit waren tatsächlich ein
anderes Kaliber.
Eines Abends, sämtliche Pilger
waren längst eingetroffen und hatten es sich gemütlich gemacht, da kamen noch
zwei Nachzügler. Ein junges italienisches Paar, er mit dunklem Vollbart, groß
und kräftig, ein Bär von einem Mann, sie klein, zierlich mit schwarzen
Engelslocken — und unübersehbar schwanger.
Meine Güte, wie Maria und
Josef, dachte ich, aber anders als damals in Bethlehem gab es noch Raum in der
Herberge, wenn auch nicht mehr viel.
„Hört mal, ihr Pilger“, sagte
ich als ich Matteo und Gaia — so hießen die beiden — in
den Schlafsaal führte, „hier ist noch ein Paar angekommen, das…“
„Du brauchst gar nicht weiter
zu reden“, unterbrach mich ein junger Andalusier, „ich räume meinen Platz und
ziehe dahinten hin um, damit die beiden zwei Betten nebeneinander haben.“
Überhaupt waren alle anderen
Pilger besonders nett und rücksichtsvoll gegenüber dem jungen Paar. Werdende
Eltern auf dem Camino — das war nicht nur anrührend, das hatte geradezu etwas
Biblisches.
Nachdem es die ganze Nacht
gestürmt hatte, schneite es am anderen Morgen. Matteo bat mich um alte
Zeitungen, die ich ihm etwas ratlos gab und mit wachsender Skepsis zusah, wie
er sie unter Gaias Pullover schob.
„Das hält den Wind ab“,
erklärte er.
Spontan und ohne nachzudenken
lief ich in mein Zimmer, griff von meinen warmen Pullovern den mit der
unempfindlichsten Farbe. Was brauchte ich drei — zwei waren genug und Gaia hatte ihn nötiger als ich. Erst später wunderte ich
mich, dass ich mich so ohne weiteres von einem meiner geliebten Fleecepullis getrennt hatte — ich, die ich sonst nie genug
Klamotten haben konnte. Wahrscheinlich war ich tatsächlich dabei, neue
Prioritäten zu entwickeln.
Der Pulli passte Gaia , obwohl sie viel kleiner war als ich, reichte gut über
ihrem dicken Bauch, die Ärmel konnte sie ja hochkrempeln.
„Warum geht ihr den Weg
ausgerechnet jetzt, wo es so kalt ist und Gaia schwanger?“, fragte ich, obwohl ich mir die Antwort eigentlich denken konnte.
„ Una promesa “, sagte Matteo denn auch und lächelte, als er mein
besorgtes Gesicht sah. „Glaub’ mir, ich denke immer zuerst an Gaia und das Baby und ganz zuletzt erst an mich. Ich passe
schon gut auf sie auf. Und im Übrigen — es ist richtig und sehr gut, dass wir
den Camino genau jetzt machen — für uns alle drei.“
Gaia lächelte dazu strahlend und
vertrauensvoll, als wisse sie genau, dass ihre Pilgerreise unter einem guten
Stern stand. „Ihr müsst uns schreiben, wenn das Baby da ist“, sagte Esperanza
zum Abschied und steckte den beiden Proviant zu. Gemeinsam winkten wir ihnen
nach, wie sie zum Hoftor hinausgingen, sahen uns an und wussten, dass wir
dasselbe dachten: Hoffentlich geht bei denen alles gut.
Den ganzen Tag über fielen
dichte Flocken, am späten Vormittag musste ein Schneepflug die Pass-Straße
übers Gebirge frei räumen. Es war wirklich Winter geworden. Nachmittags kam
Tomás von Manjarín herunter und stattete uns einen kurzen Besuch ab. Er war auf
dem Weg nach Fatima in Portugal, wo er bei der Heiligen Jungfrau für seine
krebskranke Freundin beten wollte. Als er mich sah, strahlte er, breitete die
Arme aus und zog mich an seine Brust.
„Ich habe schon gehört, dass
hier eine deutsche Hospitalera ist — aber ich wusste nicht, dass du es bist.
Wie geht es dir?“
„Ganz gut“, sagte ich, „wenn
man mal davon absieht, dass ich in Deutschland meinen Job verloren habe.“
Wir setzten uns zusammen,
erzählten, tranken Tee und aßen Pasteles und als sich
Tomás anschickte aufzubrechen, bat ich ihn: „Zünde doch bitte eine Kerze in
Fatima für mich an, dafür dass ich einen neuen Job finde.“
„Das werde ich nicht tun“, sagte Tomás trocken.
„Aber warum denn nicht?“,
wunderte ich mich.
Er lächelte und sah mich
liebevoll durch seine dicken Brillengläser an. „Ich werde eine Kerze anzünden
für dein Bestes — was immer das sein mag.“
Der November neigte sich seinem
Ende entgegen, und ganz allmählich nahm
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