Raum
haben?«
»Hör mir zu«, sagt Ma und hält mir den Mund zu. »Er hat mich gezwungen, eine schlimme Medizin zu schlucken, damit ich einschlief. Und als ich wieder aufwachte, war ich hier.«
Es ist beinahe schwarz, und ich kann Mas Gesicht jetzt überhaupt nicht mehr sehen. Es ist weggedreht, ich kann nur noch zuhören.
»Als er zum ersten Mal die Tür aufgemacht hat, habe ich um Hilfe geschrien, da hat er mich zusammengeschlagen. Danach habe ich das nie wieder versucht.«
Mein Bäuchlein ist ganz verknotet.
»Am Anfang hatte ich Angst einzuschlafen, für den Fall, dass er wiederkam«, sagt Ma. »Aber die Zeit, wo ich schlief, war die einzige, wo ich nicht weinen musste, deshalb habe ich ungefähr sechzehn Stunden am Tag geschlafen.«
»Hast du eine Pfütze gemacht?«
»Was?«
»Alice weint eine Pfütze, weil sie sich nicht mehr an ihre ganzen Gedichte und Zahlen erinnern kann, und dann ertrinkt sie beinahe.«
»Nein«, sagt Ma, »aber mir tat die ganze Zeit der Kopf weh, und meine Augen juckten. Der Geruch der Korkfliesen hat mich krank gemacht.«
»Was für ein Geruch?«
»Ich habe mich selbst in den Wahnsinn getrieben, immer wieder auf meine Uhr geschaut und die Sekunden gezählt. Alle möglichen Dinge haben mir Angst gemacht, sie schienen größer zu werden oder kleiner, wenn ich sie ansah, aber wenn ich wegsah, fingen sie an zu rutschen. Als er mir endlich ein Fernsehgerät brachte, ließ ich es die ganze Woche rund um die Uhr laufen, lauter Blödsinn. Bei den Werbespots für Essen, das ich kannte, tat mir richtig der Mund weh, weil ich das Zeug so unbedingt haben wollte. Manchmal hörte ich aus dem Fernseher Stimmen, die mir etwas sagen wollten.«
»So wie Dora?«
Sie schüttelt den Kopf. »Wenn er auf der Arbeit war, versuchte ich auszubrechen. Ich habe alles probiert. Tagelang habe ich mich auf dem Tisch auf Zehenspitzen gestellt und am Oberlicht herumgekratzt, bis ich mir sämtliche Fingernägel abgebrochen hatte. Ich warf alles dagegen, was ich in die Hände kriegte, aber ich habe es noch nicht mal geschafft, einen Riss ins Glas zu bekommen.«
Oberlicht ist nur ein Viereck, wo es weniger dunkel ist. »Was alles?«
»Die große Pfanne, Stühle, den Mülleimer …«
Boah, das hätte ich gern gesehen, wie sie Müll hochgeworfen hat.
»Ein andermal habe ich ein Loch gegraben.«
Ich kapiere nicht. »Wo?«
»Man kann es noch tasten. Willst du mal? Wir müssen da drunter …«
Ma schlägt Zudeck zurück und holt die Schachtel unter Bett hervor. Als sie reinkrabbelt, grunzt sie ein bisschen. Ich schiebe mich neben sie, wir sind neben Eierschlange, bloß nicht zerdrücken. »Die Idee ist mir bei Gesprengte Ketten gekommen, das ist der Film mit der spannenden Flucht.« Ihre Stimme wummert neben meinem Kopf.
Mir fällt die Geschichte mit dem Nazilager wieder ein, das ist nicht so ein Sommerlager mit Mäusespeck überm Feuer, es ist im Winter, und Millionen von Personen essen Madensuppe. Die Alliierten haben die Tore aufgehauen, und alle sind rausgelaufen. Ich glaube, die Alliierten sind alle Engel so wie der heilige Peter.
»Gib mir mal deine Finger …« Ma zieht daran. Ich fühle den Kork von Boden. »Genau hier.« Plötzlich ist da eine Fliese, die durchhängt und raue Kanten hat. Meine Brust macht bumm bumm . Ich habe überhaupt nie gewisst, dass da ein Loch war. »Vorsichtig. Nicht, dass du dich schneidest. Ich habe es damals mit dem gezackten Messer gemacht«, sagt sie. »Ich habe den Kork abgelöst, aber das Holz hat mich eine ganze Weile gekostet. Die Bleischicht und der Schaumstoff waren danach nur noch ein Kinderspiel. Aber weißt du, was ich dann gefunden habe?«
»Das Wunderland?«
Ma macht einen so wütenden Ton, dass ich mir an Bett den Kopf stoße.
»Tut mir leid.«
»Was ich fand, war ein Maschendrahtzaun.«
»Wo?«
»Genau hier in diesem Loch.«
Ein Zaun in einem Loch? Ich tue meine Hand rein und noch weiter rein.
»Etwas aus Metall. Hast du es?«
»Ja.« Kalt und ganz glatt. Ich fasse es mit den Fingern an.
»Als er damals den Schuppen in Raum umgebaut hat«, sagt Ma, »da hat er unter die Fußbodenplanken einen Maschendraht gezogen. Auch in alle Wände und sogar ins Dach. Da hätte ich mich niemals durchschneiden können.«
Wir sind wieder rausgekrochen und sitzen mit dem Rücken gegen Bett. Ich bin ganz außer Puste.
»Als er das Loch entdeckt hat, hat er gebrüllt.«
»Wie ein Bär?«
»Nein, vor Lachen. Ich hatte Angst, dass er mich schlagen würde, aber er
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