Raumfahrergarn
starrte an die Wand und versuchte sich an Traumbilder zu erinnern, an irgend etwas, das ihr ein Gefühl für die verstrichene Zeit geben könnte. Aber es hatte keinen Sinn. Sie hatte im Kälteschlaf nicht geträumt.
Niemand träumte im Kälteschlaf. Sie fühlte sich innerlich taub und versuchte den Schock in Grenzen zu halten. »Das ist unmöglich. Ich habe das Gefühl, als sei der Zusammenstoß erst vor ein paar Minuten geschehen. Ich habe dort meine Augen geschlossen. Und hier habe ich sie wieder geöffnet. Es ist keine Lücke in meinen Wahrnehmungen zwischen jetzt und damals.«
»Sehen Sie, deshalb ist es mir so schwergefallen, Ihnen die Wahrheit zu sagen, Lunzie«, sagte Stev sanft. »Wissen Sie, es ist nicht so schwierig, wenn die Lücke weniger als zwei Jahre beträgt. Das ist die Zeitspanne, die hier auf der Plattform gewöhnlich vorkommt, wenn ein Bergmann draußen einen Unfall hatte und um Hilfe ersucht hat. Der Schläfer fällt ein wenig hinter das Tagesgeschehen zurück, aber es gibt selten ein Anpassungsproblem. Die kryogenische Technik ist knapp über hundertvierzig Jahre alt. Ihr … äh … Ihr Schlaf ist der längste, mit dem ich je zu tun hatte. Genauer gesagt, der längste, von dem ich je gehört habe. Wir werde Ihnen helfen, so gut wir können. Sie müssen nur fragen.«
Lunzies Gehirn weigerte sich immer noch, zweiundsechzig Jahre mit irgendeiner realen Erfahrung in Zusammenhang zu bringen. »Aber das heißt ja, daß meine Tochter …« Ihre Kehle zog sich zusammen, und ihre Stimme weigerte sich, den Gedanken auszusprechen. Sie streckte eine zitternde Hand nach dem Hologramm aus, das auf dem Klappregal neben dem Bett lag. Sie hätte eine siebzehn- oder achtzehnjährige Fiona an Stelle des kleinen Mädchens akzeptieren können, das sie zurückgelassen hatte, aber eine Sechsundsiebzigjährige, eine alte Frau, die mehr als doppelt so alt war wie sie selbst? »Wissen Sie, ich bin erst vierunddreißig«, sagte sie.
Satia setzte sich neben Lunzie auf die Bettkante und faßte sie voller Mitgefühl am Arm. »Ich weiß.«
»Das heißt, meine Tochter … ist ohne mich aufgewachsen«, schloß Lunzie gequält. »Sie hatte eine Karriere, Freunde, Kinder …« Der Lächeln des holographischen Bildes strahlte sie an, Erinnerungen stiegen auf, an ihr Lachen, an die unbewußte Eleganz eines langbeinigen Mädchens, aus dem eine große, elegante Frau werden sollte.
»Nun – mit Sicherheit«, pflichtete die Ärztin ihr bei.
Lunzie schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Satia schloß sie in die Arme und streichelte ihr Haar mit sanften Händen.
»Vielleicht sollten wir Ihnen ein Beruhigungsmittel geben, damit Sie sich ausruhen können«, schlug Stev vor, aber Lunzies Schluchzer wurden leiser und verstummten schließlich ganz.
»Nein!« Lunzie funkelte ihn mit geröteten Augen an. »Ich will nicht wieder schlafen.«
Was rede ich da bloß? dachte sie und riß sich zusammen. Genau so hat Jilet es mir beschrieben. Unmut, Angst vor dem Schlafen, Angst davor, nie wieder aufzuwachen. »Vielleicht könnte mich jemand auf der Plattform herumführen, bis ich meine Orientierung wiedergefunden habe.« Sie lächelte die anderen beiden hoffnungsvoll an. »Ich habe mich schon genug ausgeruht.«
»Ich mach’s«, meldete Satia sich freiwillig. »Ich habe diese Schicht frei. Wir können eine Anfrage zu Ihrer Tochter nach Tau Ceti schicken.«
Die Kommunikationszentrale befand sich in der Nähe der Administrationsbüros in Zylinder Eins. Satia und Lunzie spazierten aus der Medizinischen Zentrale in Zylinder Zwei kilometerweit durch überkuppelte Korridore. Lunzie nahm ihre Umgebung mit großen Augen in sich auf. Laut Satia bestand die Bevölkerung der Plattform aus achthundert Erwachsenen, darunter fünfundachtzig Prozent Menschen, außerdem Schwerweltler, Weber und die vogelartigen Ryxi, dazu einige andere Rassen, die Lunzie nicht kannte.
Schwerweltler waren auch Menschen, allerdings eine genetisch modifizierte Subspezies, die Planeten mit hoher Gravitation bewohnen konnten, welche sich ansonsten zur Kolonialisierung eigneten, für menschliche ›Leichtgewichte‹ aber zu schwierige Lebensbedingungen boten. Die Männer waren mindestens zwei Meter zehn groß. Ihre Gesichtszüge waren breit und grob, erinnerten fast an Neandertaler, und ihre Hände, selbst wenn sie wohlproportionierte schlanke Finger hatten, waren riesig. Die Frauen waren so stämmig, daß leichtgewichtige Frauen neben ihnen wie Püppchen wirkten. Sie
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