Raus aus der Suchtfalle
Womöglich werden eher die Belastungen, die verschiedene Lebensbereiche mit sich bringen, wahrgenommen. Durch die unmittelbare Wirkung des Suchtmittels auf das »Belohnungssystem« im Gehirn erscheinen zuvor wichtige Lebensinhalte im Vergleich vielleicht sogar langweilig, mühsam, mit Enttäuschungen verbunden, weniger zuverlässig und verfügbar (auf diese Zusammenhänge gehen wir auf → S. 56 ein). Durch die Einengung der Wahrnehmung auf das Suchtmittel und die Vernachlässigung wichtiger Lebensbereichekann sich ein Teufelskreis entwickeln: Die Kompensation eines Lebensbereiches durch einen anderen entfällt, wenn dieser nicht mehr als Ressource wahrgenommen und genutzt wird. Das Suchtmittel nimmt zunehmend Raum und Zeit ein, bis andere Lebensbereiche womöglich wegbrechen (Scheitern der Partnerschaft, Rückzug von Freunden, Verlust des Arbeitsplatzes, körperliche und seelische Beeinträchtigungen).
Man kann oder will sich den Aufgaben nicht stellen
Jede Lebensphase stellt uns vor ihre typischen Herausforderungen, wobei es mehr oder weniger typische Entwicklungsaufgaben gibt. Auch wenn der einheitliche Lebensweg, wie er kurz skizziert wird, längst nicht mehr die Regel ist, so verdeutlicht die folgende Tabelle einzelne Entwicklungsaufgaben.
Entwicklungsaufgaben im Leben eines Menschen.
Lebensabschnitt
Entwicklungsaufgabe (jeweils ein Beispiel)
Säuglingsphase
Der Säugling lernt, ganz grundsätzliche Bedürfnisse befriedigt zu bekommen. Hierzu ist es für ihn wichtig, seiner Mutter deutlich zu signalisieren, was er benötigt.
Kindheit
Ein Kind lernt, in zunehmend vielen Lebensbereichen kompetenter und selbstständiger zu werden.
Jugend
Ein Jugendlicher kämpft um seine Selbstständigkeit, strebt eine eigene Identität, zunehmend losgelöst vom Elternhaus, an.
junges Erwachsensein (»Adoleszenz«)
Ein junger erwachsener Mensch findet seine Identitäten in Partnerschaft(en), Beruf und sozialen Systemen.
mittleres Erwachsenenalter – Familienphase
Erwachsene Menschen übernehmen Verantwortung für sich und – sofern vorhanden – ihre Kinder, sie gestalten ihr Leben aktiv in unterschiedlichen Rollen.
Ende der Familienphase
Wenn die Kinder erwachsen werden und die Familie verlassen, müssen andere Lebensinhalte die Lücke auffüllen; neue Hobbys und Themen der Auseinandersetzung mit sich selbst gewinnen an Gewicht.
Berufsaustrittsphase, Rentenalter
In der Phase des Übergangs von Beruf zum Ruhestand verschieben sich die Beschäftigungen erheblich: neue Rollen, neue Lebensinhalte werden wichtig.
spätes Alter – Lebensabschiedsphase
In der Phase des späten Alters und des Lebensabschieds ist es für viele Menschen wichtig, die eigene Biografie zu bejahen, eigene Erfahrungen noch einmal weiterzugeben und das Loslassen in allen Lebenslagen zu lernen.
Eine Suchterkrankung führt häufig dazu, dass die jeweiligen anstehenden Entwicklungsaufgaben nicht mehr bewältigt werden. Dies kann entweder die pure Folge der Suchterkrankung sein: Die Suchterkrankung lässt keinen Raum für die eigentlichen Lebensaufgaben. Oder: Die Suchterkrankung dient unbewusst dazu, die eigentlich anstehende Entwicklungsaufgabe zu vermeiden. Schauen wir uns dazu die Situation einer Patientin an.
»Es fing an, als die Kinder aus dem Haus gingen«
Frau J., die sich als Hausfrau, Ehefrau und Mutter identifiziert und engagiert hatte, berichtet: »Als meine beiden Kinder erwachsen waren und aus dem Haus gingen, fühlte ich mich völlig leer, nutzlos und nicht benötigt. Ich wusste nichts mit mir anzufangen. Ich wollte immer für meine Kinder da sein, und jetzt waren sie einfach weg. Schon morgens fängt es an: Ich weiß gar nicht, wie ich den Tag rumbringen soll. Ich habe keine sinnvolle Aufgabe mehr und fürchte mich vor der Langeweile des Tages.
Ich habe abends schon immer gern ein Gläschen Wein getrunken, aber seit die Kinder aus dem Haus sind, greife ich immer öfter zur Flasche. Mit Wein und auch Likör und Schnaps bringe ich meine Tage irgendwie herum. Beim Einschlafen helfen mir Beruhigungsmittel. Wenn ich morgens schon ängstlich und unruhig aufwache, nehme ich sie auch.
Inzwischen bin ich es gar nicht mehr gewohnt, unter Leute zu gehen. Ich traue mir immer weniger zu und habe das Gefühl, dass andere Menschen mir meine Unsicherheit und Nutzlosigkeit anmerken. Ich bin ängstlich und kraftlos.
Die Beschreibungen von Frau J. sind bezeichnend für das »Empty-Nest-Syndrome«, dem Phänomen des leer gewordenenNestes. Sie wurde auf
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