Raven (Amor-Trilogie) (German Edition)
und es gelang mir sie hochzureißen und auf die Füße zu ziehen.
»Renn«, sagte ich. »lauf weiter.« Ich schubste sie. Sie weinte und ich schubste sie. Aber sie rannte, so gut sie konnte, auf Beinen, die immer noch zu kurz für ihren Körper waren.
Der Schmarotzer stieß mir einen Fuß zwischen die Rippen, genau an die Stelle, wo mein Vater sie mir gebrochen hatte, als ich zwölf war. Vor Schmerzen wurde mir einen Moment schwarz vor Augen, und als ich auf den Rücken rollte, war plötzlich alles um mich herum anders. Die Sterne waren keine Sterne, sondern eine Decke mit Wasserflecken. Die Erde war keine Erde, sondern ein grober Teppich.
Und der Schmarotzer war kein Schmarotzer mehr, sondern er . Mein Vater.
Seine Augen waren schmal wie Schlitze, die Fäuste so hart wie Gürtelschnallen, der Atem heiß und feucht in meinem Gesicht. Sein Kiefer, sein Geruch, sein Schweiß. Er hatte mich gefunden. Er hob die Faust und ich wusste, dass jetzt alles von vorne losginge, dass es nie aufhören würde, dass er mich nie in Ruhe lassen würde und ich nie entkommen könnte.
Dass Blue nie in Sicherheit sein würde.
Alles wurde dunkel und still.
Ich merkte nicht, dass ich das Messer gezogen hatte, bis es tief zwischen seinen Rippen steckte.
Nichts als Stille hörte ich, die Male, die ich getötet habe. Die Male, die ich töten musste. Wenn es einen Gott gibt, hat er offenbar nichts dazu zu sagen.
Wenn es einen Gott gibt, muss er das Zusehen schon seit langer Zeit satthaben.
In Julian Finemans Hinrichtungsraum herrscht auch Stille, abgesehen von dem gelegentlichen Klick-klick einer Kamera, abgesehen von der dröhnenden Stimme des Priesters. Aber als Abraham sah, dass Isaak unrein geworden war, bat er in seinem Herzen um Führung …
Die Stille ist weiß wie Dinge, die übergestrichen und versteckt wurden oder ungesagt geblieben sind.
Es herrscht Stille, bis auf das Quietsch-quietsch meiner Turnschuhe auf dem Linoleumboden. Der Arzt dreht sich verärgert zu mir um. Verwirrt. Meine Stimme klingt in diesem großen, weitläufigen weißen Raum ganz fremd.
Der erste Schuss ist sehr laut.
Ich erinnere mich daran, wie ich vor all diesen Jahren mit Tack zusammensaß, als er seinen neuen Namen bekommen hatte. An den glutroten Schein des Feuers in dem alten Holzofen und an Blue, die bereits ruhiger atmend schwer in meinen Armen lag. Wir hörten Schlafgeräusche aus den anderen Zimmern und irgendwo über uns das Pfeifen des Windes in den Bäumen.
»Du bist zurückgekommen«, sagte ich. »Damit hatte ich nicht gerechnet.«
»Ich hatte es auch nicht vor«, räumte er ein. Er sah anders aus, jetzt wo er Kleider trug, die Grandpa für ihn im Lager aufgetan hatte – viel jünger, viel dünner. Seine Augen waren riesige dunkle Höhlen in seinem Gesicht. Ich fand ihn schön.
Ich drückte Blue etwas fester an mich. Sie glühte immer noch, schlief immer noch unruhig. Aber ihre Atemzüge gingen langsam und gleichmäßig und in ihrer Brust war kein Rasseln mehr eingeschlossen. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich einsam gewesen war. Nicht nur im Stützpunkt, wo alle zu sehr mit ihrem Kampf ums Überleben beschäftigt waren, um sich um Freundschaften zu kümmen. Wo die meisten Invaliden älter waren oder nicht ganz klar im Kopf oder einfach gerne für sich blieben. Auch vorher schon. Auch zu Hause hatte ich eigentlich nie Freundinnen gehabt. Das konnte ich mir nicht leisten, niemand durfte wissen, wie es bei mir zu Hause war, ich wollte nicht, dass irgendjemand aufmerksam wurde oder Fragen stellte.
Allein. Mein ganzes Leben lang war ich allein gewesen. »Warum hast du es dir anders überlegt?«, fragte ich.
Er lächelte ein bisschen. »Weil ich wusste, dass du dachtest, ich würde mich verpissen.«
Ich starrte ihn an. »Du hast die Grenze überquert – hast dein Leben riskiert –, nur um mir zu beweisen, dass du die Wahrheit gesagt hast?«
»Nicht um zu beweisen, dass ich die Wahrheit gesagt habe«, erwiderte er. »Um zu beweisen, dass du falschlagst.« Er lächelte, richtig diesmal. »Ich glaube, du bist es wert.«
Und dann küsste er mich. Er beugte sich vor und berührte einfach meine Lippen mit seinen, während Blue zwischen uns lag wie ein Geheimnis. Da wusste ich, dass ich von jetzt an nicht mehr so allein sein würde.
»Wie hast du …« Lena ist atemlos, weiß im Gesicht. Der Schock vielleicht. Ihre Handflächen sind zerschnitten und sie hat Blut auf der Jacke. »Wo hast du …?«
»Später«, sage ich.
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