Raven (Amor-Trilogie) (German Edition)
Meine Wange brennt. Ich habe Glassplitter abbekommen, als Lena beschlossen hat, durch die Tribünenscheibe zu brechen. Aber das ist nichts, was eine Pinzette nicht in Ordnung bringen könnte. Ich bin froh, dass ich keine Splitter ins Auge bekommen habe.
Aus der Nähe sieht Julian ganz anders aus als in all den VDFA-Broschüren; jünger und irgendwie traurig und übereifrig, wie ein Welpe, der um Aufmerksamkeit bettelt – und sei es ein kurzer Tritt.
Zum Glück stellt er keine Fragen, läuft mir einfach hinterher, geht schnell, sagt nichts. Er muss daran gewöhnt sein zu gehorchen. Wenn Lena nicht gewesen wäre, wenn sie nicht die Regeln verändert hätte, hätte er inzwischen eine Nadel im Arm und wäre tot. Für uns und die Bewegung wäre das besser gewesen.
Es hat keinen Zweck, jetzt darüber nachzudenken. Lena hat sich für ihn eingesetzt und daher habe ich mich für sie eingesetzt.
Für seine Familie tut man alles. Immer.
Wir gehen durch den Notausgang hinaus zur Feuerleiter, die in den kleinen Garten führt, den ich vorhin ausgekundschaftet habe. So weit, so gut. Lena hinter mir atmet schnell und heftig, aber meine Atmung ist langsam und sogar ruhig.
Das ist meine Lieblingsstelle der Geschichte: die Flucht.
Tack wartet mit dem Lieferwagen in der 24. Straße, genau wie verabredet. Ich öffne die Hecktür und schließe Lena und Julian ein.
»Hast du sie?«, fragt Tack, als ich auf den Beifahrersitz klettere.
»Wäre ich sonst hier?«, entgegne ich.
Er runzelt die Stirn. »Du blutest.«
Ich klappe den Spiegel runter und sehe mich an: ein paar ungleichmäßige Schnitte auf meiner Wange und am Hals. »Nur ein Kratzer«, entgegne ich und tupfe das Blut mit dem Ärmel meines Sweatshirts ab.
»Na, dann los«, sagt Tack und seufzt.
Er lässt den Motor an und fährt auf die Straße, die vom Regen grau ist und voller Pfützen. Ich presse meinen Ärmel an die Wange, um die Blutung zu stoppen. Erst, als wir beim West Side Highway sind, sagt Tack wieder etwas.
»Es ist riskant, ihn mitzunehmen«, sagt er leise. »Julian Fineman. Scheiße. Total riskant.«
»Ich übernehme die Verantwortung.« Ich drehe das Gesicht zum Fenster. Dort sehe ich die geisterhaften Umrisse meines Spiegelbilds und spüre den kalten Fahrtwind durch das Glas.
»Sie ist dir wichtig, oder? Lena, meine ich.« Tacks Stimme bleibt leise.
»Sie ist wichtig für die Bewegung«, antworte ich und sehe, wie auch das Geistermädchen in der Scheibe spricht und ihre Zähne aufblitzen, sehe ihr Bild vor der vorbeiziehenden Stadt.
Einen Moment lang erwidert Tack nichts. Dann spüre ich seine Hand auf meinem Knie. »Für dich hätte ich das auch getan«, sagt er, noch leiser. »Wenn sie dich gekriegt hätten. Dann wäre ich zurückgekommen. Ich hätte es riskiert.«
Ich drehe mich zu ihm um. »Du bist doch schon zu mir zurückgekommen«, sage ich. Ich erinnere mich an diesen ersten Kuss, an Blues Wärme zwischen uns und Tacks Lippen, so trocken wie Knochen, so sanft wie ein Schatten. Ich kann ihren Namen noch immer nicht aussprechen, aber ich glaube, er weiß, was ich denke. »Du bist zu uns zurückgekommen.«
In letzter Zeit habe ich diese Fantasie immer öfter. Die, in der Tack und ich abhauen, unter dem weiten Himmel im Wald verschwinden, dessen Blätter uns wie grüne Hände willkommen heißen. Je weiter wir in meiner Fantasie gehen, desto sauberer werden wir. Als würde der Wald die letzten paar Jahre abwischen, das ganze Blut, die Kämpfe und die Narben – die bösen Erinnerungen und die Fehlstarts abstreifen und uns glänzend und neu zurücklassen wie Puppen, die man gerade aus der Verpackung genommen hat.
Und in dieser Fantasie, meinem Fantasieleben, finden wir eine tief im Wald gelegene Steinhütte, unberührt, mit Betten, Teppichen, Tellern und allem, was wir zum Leben brauchen. Als hätten die Besitzer sich gerade eben aufgemacht und das Haus verlassen oder als wäre es extra für uns gebaut worden und hätte die ganze Zeit dort auf uns gewartet.
Im Sommer angeln wir im Fluss und jagen im Wald. Wir bauen Kartoffeln und Paprika an und Tomaten, die so groß werden wie Kürbisse. Im Winter bleiben wir drinnen am Feuer, während um uns herum Schnee fällt wie eine Decke, die die Welt zur Ruhe bringt und zum Schlaf bettet.
Wir haben vier Kinder. Vielleicht sogar fünf. Das erste ist ein Mädchen, wahnsinnig schön, und wir nennen es Blue.
»Wo zum Teufel wart ihr?« Sobald wir wieder bei der Lagerhalle ankommen, springt Pike mir fast
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