Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
Ränder der Tasche auseinander. »Bitte auspacken.«
Wider alle Vernunft begann Nick Jerome, Lage um Lage der Wäschestücke aus dem geräumigen Inneren der Reisetasche zu heben und neben der Tasche auf dem Tisch aufzustapeln. Beim Abheben der dritten Lage legte er den Kristallschädel frei.
Die schreiende Panik in den tiefsten Abgründen seiner Seele verwandelte sich in eine Mischung aus Resignation und Erleichterung. Seine Odyssee, die ihn vom Wrack der ESPERANZA auf dem Meeresgrund bei den Caicos-Inseln längs der Küste des südamerikanischen Subkontinents bis zu jener kleinen Flussmündung, wo er die LAURA mitsamt der Leiche seines Freundes José Hernandez versenkt hatte, von dort aus weiter nach Rio de Janeiro und schließlich hierher nach Paris geführt hatte, war zu Ende. In wenigen Minuten würden sich Handschellen um seine Gelenke schließen und es diesen Mörderhänden unmöglich machen, jemals wieder nach dem Tauchermesser zu greifen, das sorgfältig gereinigt in seiner Scheide unter dem Kristallschädel lauerte.
Der Zöllner, der immer noch die Taschenränder weit auseinander hielt, beugte sich ein wenig vor. Starrte den Kristallschädel an, der ihm wie ein Gespenst aus einer anderen Welt - was er ja auch war - entgegengrinste. Nickte langsam und bedächtig. Seine Hände lösten sich von der Tasche. Gleich mussten sie nach dem Alarmknopf tasten ...
»Eh bien, Monsieur. Alles in Ordnung, wie mir scheint. Sie können Ihre Sachen wieder einpacken. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Paris.«
Nick hob langsam den Blick und schaute dem Zollbeamten ins Gesicht, während er mechanisch seine Wäsche in die Reisetasche zurückzulegen begann. Aus den Augen des Zollbeamten war auch der letzte Rest von Verdacht gewichen. Sie wirkten seltsam stumpf, fast so, als läge ein dünner, milchiger Schleier über den Pupillen.
Als er zum Ausgang schlenderte, um sich ein Taxi zu besorgen, fragte sich Nick Jerome, was diese Augen wohl beim Blick auf den Kristallschädel gesehen haben mochten ...
Sein Hotel lag direkt am Ufer der Seine, und von seinem Fenster aus hatte er einen fantastischen Blick auf den Eiffelturm. Früher, in einem anderen Leben, wie ihm schien, hatte er davon geträumt, irgendwann einmal nach Paris zu fahren und die 1792 Stufen bis zur Spitze des Eiffelturms hinaufzusteigen. Jetzt, da er sich unter dem Zwang des Kristallschädels in Paris befand, interessierte ihn die Stadt nicht mehr. Er kannte nur noch ein Ziel. Er war hier, um den Auftrag auszuführen, den ihm der Kristallschädel noch an Bord der LAURA, unmittelbar nach den Morden an Jeff Kurtz und José Hernandez, erteilt hatte.
ES GIBT ANDERE WIE MICH. FINDE SIE.
Dieser Befehl hatte ihn auch in die Bibliotheken von Rio de Janeiro getrieben. Weil die Stichwortverzeichnisse nichts hergaben, hatte er sich durch einen dicken Stapel archäologischer Fachbücher über Funde in Süd- und Mittelamerika gewühlt - der vielversprechendste Ansatzpunkt, den er sich hatte vorstellen können. Und tatsächlich war seine Suche von Erfolg gekrönt gewesen.
Drei weitere Schädel existierten - in New York, London und Paris.
New York war seine Heimatstadt und fiel daher aus. Zu groß war die Gefahr, dort erkannt und festgenommen zu werden. Blieben also noch London und Paris. Aus einem Impuls heraus hatte er sich für Paris entschieden. Vielleicht wegen der Faszination, die diese Stadt früher einmal auf ihn ausgeübt hatte?
Und hier war er nun. Vom Musée de l'Homme trennten ihn nur ein paar Minuten mit der Metro. Aber bevor er sich dorthin auf den Weg machte, musste er sich einen Plan zurechtlegen. Der Kristallschädel würde ihm dabei helfen. Er schien geradezu verzweifelt daran interessiert zu sein, seine - Gefährten? Artgenossen? - zu finden. Trotzdem war es natürlich besser, sich Zeit zu lassen. Eine verpatzte Aktion konnte zu verstärkten Sicherheitsmaßnahmen im Museum führen, und jeder zusätzliche Wächter, der durch die Gänge patrouillierte, würde die Aufgabe erschweren, den Pariser Schädel zu stehlen.
Außerdem wurde es schon langsam dunkel.
Nick Jerome kam aus dem luxuriösen Badezimmer, in dem er sich gerade eine Viertelstunde lang die Hände geschrubbt hatte, und warf einen flüchtigen Blick hinaus in die hereinbrechende Nacht. Auf der Seine waren bunt beleuchtete Ausflugsboote unterwegs; im Licht der Laternen zu beiden Ufern des Flusses schimmerten die schaumig weißen Spuren ihrer Kiele wie flüssiges Silber. Auf der
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