Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
müssen, dass ihn jemand mehr oder weniger durch Zufall entdeckte und dadurch in seinen Bann geriet.
Hingegen bereitete es dem Schädel keinerlei Schwierigkeiten, auf große Entfernungen zu »sehen« und diese Bilder in seinem Inneren wie auf einer Bildröhre erscheinen zu lassen.
Nick Jerome erschauerte bei dem Gedanken, dass der Schädel seinen Abstieg von der LAURA hinunter zum Wrack die ganze Zeit über verfolgt hatte, lauernd und wartend, während er tastend erste mentale Fühler ausstreckte, um ihn unter seinen Einfluss zu bringen, sobald er sich der ESPERANZA hinreichend weit genähert hatte.
Aber das lag weit in der Vergangenheit. Jetzt war der Kristallschädel dabei, den Aufenthaltsort des zweiten, des Pariser Schädels, genau zu lokalisieren und ihm, seinem Diener und ausführenden Organ, zu zeigen, damit er seinen Zugriff planen und ausführen konnte.
Das Bild eines dumpfen, verstaubten Lagerraumes. Obwohl es dunkel darin war, konnte Nick jede Einzelheit so deutlich erkennen wie bei hellstem Tageslicht. Der Schädel, mit dem er in perfektem Rapport stand, unterlag nicht den Beschränkungen menschlicher Sinnesorgane.
Eine kleine Vitrine mit halb blinden Glasscheiben, leer. Die Erregung, die den Schädel ergriff, übertrug sich auch auf seinen Diener. Der andere Schädel war hier gewesen, noch vor ganz kurzer Zeit. Warum er weggebracht worden war, war im Augenblick nicht festzustellen, aber es würde keine Mühe bereiten, seinen jetzigen Aufenthaltsort zu ermitteln. Er hatte eine »Spur« hinterlassen - wie immer diese auch aussehen mochte. Der Kristallschädel, mit dem Nick wie durch eine unsichtbare Nabelschnur verbunden war, konnte ihr jedenfalls folgen.
Blitzartig vorbeizuckende Bilder des nächtlichen Paris. Dann ein futuristisches Gebäude mit riesigen Röhren, die quer über die Front zu verlaufen schienen. Ein Labyrinth aus Gängen und Sälen, Schaukästen und Kunstwerken und anderen Artefakten darin, über deren Ursprung es keinen Zweifel geben konnte.
Eine Ausstellung süd- und mittelamerikanischer Kunst!
Irgendwo in Paris wurde der zweite Kristallschädel als indianisches Kunstwerk zur Schau gestellt - eine grobe Fehldatierung, denn die Schädel waren natürlich viel, viel älter. Zwischen ihrer Erschaffung und der Gegenwart lagen Äonen. Maronar, so spürte Nick Jerome, war schon eine verblassende Legende gewesen, als Atlantis in den Fluten des Ozeans versank.
Der Geist im Innern des Kristallschädels schien nun, so dicht vor dem Ziel, halb wahnsinnig vor Ungeduld zu werden, denn sein immaterielles Auge folgte nicht länger dem gewundenen Verlauf der Wege zwischen den Exponaten, sondern drang geradewegs durch die soliden Wände der Ausstellungsräume hindurch. Stroboskopartig wechselten Licht und Dunkelheit, Licht und Dunkelheit - so rasch, dass es Nick Jerome ganz schwindelig wurde. In seinem halb betäubten Bewusstsein tobte das Frohlocken des Schädels.
Und dann ...
Eine letzte Wand. Das Fernauge brach aus ihr hervor, und da war er: der zweite Kristallschädel. Er ruhte, ganz ähnlich wie jener in Nicks Zimmer, auf einer Art Samtdecke, nur dass sich diese dort in einer länglichen Vitrine befand. Im Vergleich zu dem Schädel, den Nick aus dem Wrack der ESPERANZA geborgen hatte und dessen Sklave er nun war, war der Pariser Kristallschädel ein grobes Stück Handwerksarbeit - nicht mehr als eine Vorstudie. Und gleiches galt auch für das Ego, das wie unter Drogeneinwirkung in den Kristallstrukturen dieses primitiven Modells vor sich hin dämmerte. Es war einfacher, geradliniger, stumpfer als das des ersten Schädels.
Aber es war nicht weniger böse ...
Mit einem mentalen Triumphschrei drang der Geist des Kristallschädels aus dem Wrack in das benommen schlummernde Ich seines Gefährten ein.
ERWACHE.
Eine dumpfe emotionale Turbulenz. Ein träges mentales Plätschern wie Hundswellen auf bleierner See.
ERWACHE, GEHILFE.
Das jähe Zerplatzen einer Oberflächenspannung. Ungläubiges Erstaunen. Wiedererkennen.
MEISTER!
Ein Unterton von schierem Entzücken. Das unendliche Glücksgefühl, dienen zu dürfen und dabei dicht bei ihm zu sein, in seinem Bannkreis schreiten zu dürfen.
MARONAR! MARONAR!
Ein zweistimmiger Aufschrei, Triumph und Kriegsruf zugleich. Das Wenige, was von Nick Jeromes unabhängigem Bewusstsein noch übrig war, erbebte unter dem Ansturm dieses aberwitzigen Schreis.
Dann kamen wieder Bilder.
Erinnerungsbilder aus Maronar waren es, aber diesmal, bei der
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