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Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Titel: Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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anderen Seite der Seine stach der Eiffelturm in den vom Widerschein der Stadt getönten Himmel und spießte einen orangefarbenen Vollmond auf.
    Die Luft war jetzt, nach dem Dunst des Tages, überraschend klar und frisch. Mit einem Frösteln auf der Haut trat Nick an das halb offene Fenster und schloss es mit einer ungeduldigen Handbewegung. Das Fenster klemmte leicht.
    Die Reisetasche stand neben dem Kleiderschrank. Ohne sie auszupacken, nahm Nick den Schädel heraus, trug ihn zum Bett und platzierte ihn dort auf der Tagesdecke, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass der Schädel sicher in einer Mulde ruhte.
    Die Kristallsubstanz fühlte sich kühl und beruhigend unter seinen Fingern an, fast wie der Kolben einer Pistole in den Händen eines nervösen Killers. Und in der Tat war der Kristallschädel eine mächtige Waffe - wenn man es verstand, ihn zu beherrschen, statt sich von ihm beherrschen zu lassen.
    Nick Jerome verstand es nicht.
    Langsam ließ er sich vor dem Bett auf dem Teppich nieder. Mit untergeschlagenen Beinen saß er da und starrte den Kristallschädel an, versenkte seinen Blick in den leeren Augenhöhlen, deren durchscheinende Wände spöttisch zu funkeln schienen.
    Dies war nicht die erste Sitzung Nick Jeromes mit dem Kristallschädel. Daher wusste er genau, was nun kommen würde. Die erste Phase der Sitzungen verlief immer gleich.
    Der Schädel zog die Aufmerksamkeit seines Dieners mit unwiderstehlicher Macht an sich, richtete sie ganz auf sich aus. Bereits von diesem Augenblick an gab es kein Entkommen mehr. Nick Jerome erging es so wie vielen, vielen vor ihm: Er konnte nun nicht mehr wegschauen. Er war gefangen, in einen unheimlichen Bann geschlagen von einer Macht, wie es sie seit Äonen nicht mehr auf Erden gegeben hatte.
    Sein Körper erstarrte. Seine Augen starrten und starrten, ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln, stundenlang manchmal, bis die Tränen aus den überreizten Augen strömten. Und etwas schlug eine unheilige Brücke zwischen dem satanischen Geist, der in dem Kristallschädel hauste, und der schutzlos daliegenden Seele des vor ihm kauernden Menschen.
    Vollkommene Verschmelzung ...
    Irgendwo hinter den leeren Augenhöhlen - im Inneren des Schädels oder jenseits davon? - verdichteten sich treibende Nebel zu Umrissen und Formen.
    Der Schädel erinnerte sich ...
    Eine Landschaft, schroff und erschreckend unter einer fackelnden Sonne, irdisch und doch nicht ganz irdisch ... Luftschiffe, in Mustern und Farben des Wahnsinns bemalt, geformt wie surrealistische Träume, von keinem erkennbaren Antrieb in der Luft gehalten ... Gestalten in lebenden, fließenden Mänteln, Magier mit grausam geschnittenen Gesichtern und Augen wie glühender Bernstein, menschlich und doch nicht menschlich ...
    MARONAR.
    Ein Tor mit Säulen aus Feuer, schwebend über der Landschaft, ein Tor, in dem es nachtschwarz zuckt und wallt, ein Tor, das den Tod über Maronar speit: Albtraumgeschöpfe von jenseits der Hölle, Dämonen mit geifernden Schnäbeln und peitschendünnen Tentakeln, die Verderben und Untergang über das Volk der Magier bringen ...
    DIE THUL SADUUM.
    Nick Jerome begriff nicht alles, was ihm da gezeigt wurde. Aber das war auch gar nicht die Absicht, die der Schädel verfolgte, wenn er diese Bilder heraufbeschwor. Vielmehr schien es Nick, als wollte der Schädel durch das rituelle Sich-Erinnern zu Beginn jeder Sitzung seinen Hass auf die dämonischen Thul Saduum, die Maronar, das Land der Magier, überrannt und vernichtet hatten, immer wieder aufs Neue anfachen. Und es konnte keinen Zweifel daran geben, dass das dem Geist, der in dem kristallenen Schädel wie in einem Gefängnis aus Diamant festsaß, auch gelang.
    Nick konnte diesen Hass fast körperlich spüren; er umgab den Schädel wie eine leuchtende Aura, wie eine satanische Parodie auf einen Heiligenschein. Unmenschlicher Hass war die einzige Triebfeder des Schädels, so viel hatte Nick Jerome inzwischen erkannt. Welches Ziel der Schädel allerdings verfolgte, vermochte er sich aber immer noch nicht vorzustellen.
    Die zweite Phase ...
    Die Landschaft verblasste, und die Gestalten von Magiern und Monstern lösten sich auf. An ihre Stelle traten andere Bilder - Bilder aus der Gegenwart.
    Nick Jerome ahnte, dass der Kristallschädel menschliche Gehirne nur auf relativ geringe Entfernung hin beeinflussen konnte. Wäre es anders gewesen, hätte der Schädel nicht mehrere Jahrhunderte auf dem Meeresgrund im Wrack der ESPERANZA daraufwarten

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