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Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Titel: Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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gestikulierenden und heftig auf Spanisch und Portugiesisch aufeinander einredenden Südamerikaner musste er ungefähr so ins Auge stechen wie ein Yeti auf der Fifth Avenue.
    Seine Hände juckten jetzt so stark, dass er gezwungen war, die Reisetasche neben sich abzustellen, um die Handinnenflächen und die Handrücken reiben zu können. Er wusste genau, wie auffällig das war. Augenblicklich schienen die Blicke der Zöllner stärker auf ihn zu brennen. Ein feiner, kühler Schweißfilm bildete sich in seinem Nacken.
    Die Tasche aufnehmen, drei Schritte vor, stehen bleiben ... Wenn das noch lange so weiter geht, fange ich an zu schreien.
    Die Gedanken des Mannes, der sich Paul Rhodes nannte, begannen in die Vergangenheit zu schweifen. Gesichter trieben aus den Abgründen seiner Erinnerung herauf. Gesichter, die ihm die Tage zur Qual und die Nächte zur Hölle machten.
    Das hinter der Taucherbrille grotesk verzerrte Gesicht von Jeff Kurtz, als das im Licht der Handscheinwerfer funkelnde Tauchermesser durch das trübe Wasser in der Kapitänskabine der ESPERANZA auf ihn zublitzte.
    Das Gesicht von José; Hernandez, zu einer aztekischen Schreckensmaske erstarrt, als er begriff, dass er auf dem Altar eines namenlosen Gottes in einem mit lästerlichen Reliefbildern verzierten Goldkästchen ermordet werden sollte - von seinem besten Freund, der diesen namenlosen Gott aus seinem Gefängnis auf dem Meeresgrund befreit hatte ...
    O Herr im Himmel! Nicht auch noch das! Bitte, nicht auch noch das!
    »Ah, Monsieur, verzei'en Sie - könnte ich bitte Ihren Pass 'aben?«
    Nick Jerome fuhr wie von der Tarantel gestochen zusammen. Einen winzigen Augenblick lang war er völlig desorientiert, und seine Blicke zuckten wie wild hin und her, wollten einen Fluchtweg suchen. Schon krampften sich seine Muskeln zusammen ...
    BERUHIGE DICH. ES BESTEHT KEINE GEFAHR.
    Die Worte waren laut und klar, von majestätischer Eindringlichkeit, aber außer Nick Jerome konnte niemand sie hören. Zugleich mit ihnen floss ein Kraftstrom wie ein kleiner elektrischer Schock durch seine Glieder - Lebensenergie, die der Kristallschädel aus den Seelen seiner Opfer gesogen und in sich aufgespeichert hatte.
    Nicks eben noch zum Zerreißen angespannte Nerven lockerten sich, und die Verkrampfung in seinen Muskeln verschwand. Mit einem entschuldigenden kleinen Lächeln, das die gebräunte, wettergegerbte Haut rings um seine Augen in tausend kleine Fältchen zerspringen ließ, zog er den Reisepass aus der Brusttasche seines Trenchcoats und hielt ihn dem Zollbeamten mit völlig ruhiger Hand hin. Auch das Jucken war jetzt verschwunden. »Verzeihen Sie«, sagte er. »Ich war ganz in Gedanken ...«
    Der Zollbeamte musterte ihn scharf und mit offenem Misstrauen. »Aber gewiss, Monsieur«, erwiderte er mit überraschend verbindlicher Stimme, während er den Pass entgegennahm und ihn aufschlug, »das kann vorkommen ...«
    Er ließ seinen Blick mehrmals zwischen dem Gesicht auf dem Passbild und dem Gesicht des Mannes vor sich hin und her wandern. Obwohl er nachdenklich die Augenbrauen runzelte, schien dieser Vergleich seinen vagen Verdacht - wenn er überhaupt einen hegte - nicht zu bestärken.
    Aber so schnell geben französische Zöllner nicht auf.
    »Würden Sie bitte Ihre Tasche auf diesen Tisch 'ier stellen, Monsieur ... ah, Rhodes?« Der amerikanische Name schien ihm einige Schwierigkeiten zu bereiten; er sprach ihn fast wie Roudez aus.
    Wortlos folgte Nick der Aufforderung. Die Tasche war nicht besonders schwer; er hatte das Goldkästchen in einem Schließfach in Rio de Janeiro deponiert und nur den Schädel mitgenommen. Die Wäschestücke, die sich außerdem noch in der Reisetasche befanden, stellten einen ausreichenden Schutz dar. Der Schädel war von allen Seiten von einem sicheren Polster umgeben.
    »Öffnen Sie bitte die Tasche.«
    Wieder gehorchte Nick wortlos. Tief in seinem Innern spürte er ein schwaches Angstgefühl - die Überreste der eigentlich hier und jetzt, an diesem Ort und in diesem Augenblick angemessenen Gefühle, die der Schädel mit seinen süchtig machenden Infusionen von fremder, geraubter Lebenskraft zurückgedrängt und betäubt hatte.
    Als das goldene Schloss der Reisetasche aufschnappte, lächelte Nick Jerome verträumt das Lächeln der Lotusesser. Im letzten Refugium seines Ichs wurde das Angstgefühl zu schreiender Panik.
    Und blieb trotzdem folgenlos.
    Der Zollbeamte machte nicht viel Federlesens. Mit seinen großen Händen drückte er die

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