Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
Goten gelebt und all die Zeit gewartet hatte, überstieg für einen Moment sein Denkvermögen. Eines aber begriff er trotz seiner Betäubung auf einmal mit ungeheurer Schärfe: Barlaam war kein Thul Saduum. Er war nur ein Geschöpf dieser Dämonenrasse, geschaffen nach ihrem Ebenbild vielleicht, aber längst nicht so mächtig.
»Wir warteten auf den Tag«, fuhr Barlaam fort, »an dem der Fluch endlich aufgehoben, das Siegel endlich gebrochen werden konnte. Denn es waren Menschen, die den Fluch über das Tor des Steinkerkers legten, und nur einer von ihnen kann den Fluch wieder lösen.«
Gegen seinen Willen musste Jeff lachen. »Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen, Barlaam«, sagte er. »Ich bin neununddreißig Jahre alt, keine Milliarde Jahre. Und auch mein Stammbaum reicht ganz bestimmt nicht so weit zurück!«
»Offenbar hast du nicht verstanden, was ich dir zu erklären versuchte«, antwortete Barlaam ruhig, wobei er plötzlich in die vertraulichere Anredeform verfiel. »Dein Stammbaum reicht sehr wohl bis in jene Zeit zurück, denn euer aller Stammbaum tut das - dank des magischen Wirkens der Ersten Menschheit! Nein, das Problem ist anderer Natur. Es gibt noch nicht sehr viele Menschen, in denen sich das genetische Erbe der Alten Rasse schon wieder voll verwirklicht hat. Du bist, um genau zu sein, der zweite in der gesamten Menschheitsgeschichte, dem ich begegnet bin. Ich muss es wissen, denn ich beobachte dich und deine Entwicklung seit deiner Geburt! Der Erste war ein junger Kelte, Ascolan mit Namen. Zu jener Zeit lebte ich hier an diesem Ort - genau dort, wo heute das Landhaus steht, in dem wir uns jetzt befinden - unter dem Namen Bariolam als Druide. Ich war es, der Stonehenge errichten ließ, damit mein Schützling, der junge Ascolan, an würdiger Tempelstätte den Bann lösen konnte, um die Thul Saduum zu befreien. Ja, du hörst schon richtig, ich bin der Erbauer von Stonehenge! Und jetzt weißt du auch, wozu diese Anlage dient.
Denn Stonehenge steht genau über der Stelle, wo die Thul Saduum tief im Erdinnern eingekerkert sind.«
Jeff Target war von Barlaams unglaublichen Eröffnungen so vor den Kopf geschlagen, dass er beinahe die alles entscheidende Frage überhört hätte, die Barlaam ihm vor Beginn seiner Erzählung angekündigt hatte.
»... frage ich dich: Willst du mir helfen?«, sagte Barlaam mit seltsam getragener Stimme, fast so, als folge er einem uralten Ritual. »Aber ich warne dich, denn es gibt zwei Möglichkeiten - du tust es freiwillig, und ich werde dich mit Macht, Reichtum und Unsterblichkeit belohnen. Oder du tust es unter Zwang, und du wirst hinterher ebenso sterben wie der Rest deiner lächerlichen Rasse.«
Jeff fuhr sich mit der Zunge über die trockenen, rauen Lippen. »Du bist verrückt, Barlaam«, stieß er dann tonlos hervor. »Du willst, dass ich mithelfe, meine eigene Rasse auszulöschen?«
Barlaam schüttelte den Kopf. »Nicht auszulöschen, Jeff. Unser Volk ist mächtig, aber wir sind zu wenige, diese Welt zu beherrschen und uns auf die Eroberung des restlichen Kosmos vorzubereiten. Die Menschen werden weiterleben, aber sie werden es unter unserer Führung tun.«
»Als eure Sklaven«, sagte Jeff leise.
»Nenne es, wie du willst«, erwiderte Barlaam. »Aber bedenke, dass wir euch zu Macht und Ruhm führen werden, die ihr niemals aus eigener Kraft erlangen würdet. Unter unserer Leitung werdet ihr die Sterne erobern. Wir werden Kriege und Hunger abschaffen, und es wird keine Unterdrückung mehr geben. Und bedenke zum anderen auch, dass die ersten Menschen von Natur aus Unterlinge waren - zum Sklavendienst gezüchtet. Dieses Erbe steckt in euch allen. Würde es euch nicht vielleicht sogar gefallen, Sklaven zu sein?«
Jeff lachte ungläubig auf. »Denkst du das wirklich? Du hast mir doch selbst erzählt, wie diese Unterlinge bei erster Gelegenheit ihre Sklavenketten abgeschüttelt und sich voller Stolz Menschen genannt haben! Nein, wir sind keine geborenen Sklaven, wir werden höchstens dazu gemacht, wenn wir uns nicht wehren. Barlaam, du weißt, dass ich dein Angebot ablehnen muss.«
Barlaam zögerte einen Moment. Ein grünlicher Schimmer wie von blitzenden Schuppen überzog sein ansonsten beängstigend menschliches Gesicht. »Und wenn ich deine Schwester wieder zum Leben erwecken würde?«, fragte er dann lauernd.
»Du würdest ...«
»Ich kann es«, sagte Barlaam. »Es gibt nicht viel, was ich nicht vermag.«
»Wenn du so mächtig bist, warum befreist du dein
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