Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
Finsternis und niemals endendem Schweigen ausgeharrt, aber sie spürten, dass die Zeit der Entscheidung nahte. Das blaue Flackern des Siegels hatte sich verändert, war blasser und gleichzeitig transparenter geworden, und drei der fünf riesigen Zacken des sternförmigen Zeichens, das den einzigen Ausweg aus ihrem unterirdischen Gefängnis blockierte, waren bereits ganz erloschen. Drei Zacken, die für drei Menschenleben standen, denn nur pulsierende Lebensenergie, dieses ungreifbare Etwas, das die Menschen Seele nannten und das im Augenblick eines gewaltsamen Todes schlagartig frei wurde, konnte - von unglaublichen Geisterkräften in die richtigen Bahnen gelenkt - die Macht des Siegels und des darin beschlossenen Fluches schwächen.
Drei Zacken, die für drei Menschenleben standen, aber den Wesen, die seit Jahrmilliarden geduldig auf den Tag ihrer Rache warteten, bedeutete ein Menschenleben weniger als nichts, waren sie es doch gewohnt, über Kontinente und ganze Welten zu herrschen, Götter und Dämonen zugleich. Für sie, die den Tod nicht kannten, war die Vernichtung menschlichen Lebens mit keinerlei Gefühlsregung verbunden.
Die Thul Saduum waren nicht im menschlichen Sinne böse. Sie standen jenseits jeder moralischen Kategorien.
Nur noch zwei der fünf mächtigen, glosenden Strahlenzacken des Siegels also leuchteten, zwei seiner Zacken und das wabernde, von ungeheuren Energien erfüllte Zentrum, eine Kraft, die selbst der Gewalt einer Supernova widerstanden hätte und nur von den gleichen Wesen, die sie entfesselt hatten, wieder gebändigt werden konnte.
Die Alten Menschen, die Sklaven und Unterlinge, hatten ihre Herren - zuerst die Magier von Maronar und dann die Thul Saduum - zwar aus ganzem Herzen gehasst, aber sie hatten auch sehr viel von ihnen gelernt.
Aber nicht genug. Das Siegel war nicht ewig; es konnte zerbrochen werden. Mit ihrem genetisch-magischen Programm hatten die Alten Menschen zwar ihrer Rasse eine zweite Chance gegeben, aber zugleich hatten sie damit auch ihren endgültigen Untergang heraufbeschworen.
Die lange Suche hatte Erfolg gehabt, und einer der wenigen schon voll entwickelten Erben der Ersten Menschheit war gefunden worden. Barlaam, ›der unter dem Joch‹, war es gewesen, der dies vollbrachte. Zum ersten Mal, seit sie in ihr lichtloses Gefängnis verbannt worden waren, verspürten die Thul Saduum so etwas wie Ungeduld, und sieben der mächtigsten und grausamsten Dämonen der Alten Erde hatten sich in dem kuppelförmigen Raum tiefunter dem Steinkreis von Stonehenge versammelt und fieberten dem Augenblick entgegen, in dem das Siegel endgültig zerbrechen würde.
Sieben von vielen, nur sieben von einer Heerschar, die nach Zehntausenden zählte, doch jeder mächtig genug, um allein die Herrschaft über den gesamten Planeten Erde an sich zu reißen.
Bald, das spürten sie, würde es soweit sein.
Bald.
In diesem Moment erlosch der vierte Zacken.
Die Lichtung lag am Rande eines steilen, vielleicht fünfzehn Meter tiefen Felsabsturzes und war ringsum von dichtem, nahezu undurchdringlichem Wald umgeben. Nur ein schmaler, ölwannenzertrümmernder Weg, der die meisten Autofahrer davon abhielt, ihn einzuschlagen, führte von der Hauptstraße hier herauf, und so war es kein Wunder, dass sich der Platz schnell zu einem beliebten Treffpunkt für Liebespaare entwickelt hatte. Der Blick reichte hier ungehindert weit über Karghill und die Ebene hinaus, und bei klarem Wetter konnte man sogar die Silhouette Stonehenges sehen, die als dunkler Schatten auf dem Horizont hockte.
Die beiden jungen Leute aber, die eng umschlungen auf dem Rücksitz des Ford-Kombiwagens, der dicht am Abgrund geparkt war, saßen, hatten für diese Sehenswürdigkeit kaum einen Blick übrig. Sie waren hierher gekommen, um einmal für ein paar Stunden allein zu sein, der Enge ihrer Elternhäuser zu entfliehen und - vielleicht - ein paar Zärtlichkeiten auszutauschen.
Leise Musik drang aus den Lautsprechern, und das Rauschen des Windes in den Bäumen ringsum zauberte eine romantische Atmosphäre über die Lichtung. Und drinnen im Wagen war es schön warm.
»Bist du sicher, dass es richtig ist, was wir tun?«, fragte Sue.
Marc, der blonde, hochgewachsene Mann neben ihr, lächelte. »Wir tun doch gar nichts«, flüsterte er dicht an Sues Ohr. »Noch nicht, jedenfalls«, fügte er bedauernd hinzu und ließ seine Hand, die leicht auf Sues Knie ruhte, ein oder zwei Zentimeter weiter nach oben gleiten.
Sue machte sich
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