Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
Menschenmenge zu jener Nische hinüber, wo er Jeff Target und den Inspektor erspäht hatte.
Wie Raven sofort bemerkte, waren die beiden so ungleichen Männer in eine angeregte Unterhaltung vertieft. Je länger sie sich kannten, desto besser schienen sie sich zu verstehen - und das, obwohl Card jener Beamter gewesen war, der Jeff Target bei seinem kürzlichen Besuch bei Scotland Yard so eiskalt hatte ablaufen lassen. Als Raven dichter an den Tisch herankam, vernahm er das Wort »Schattenreiter«. Wie es schien, erzählte Card dem Amerikaner also von ihren früheren gemeinsamen Erlebnissen mit den Mächten der Finsternis. Jeff Target wirkte auch einigermaßen beeindruckt.
Heute Morgen hatte er solche Geschichten noch als Ammenmärchen abgetan.
Erst als sich Raven halb über den Tisch beugte, wurden die beiden seiner gewahr. »Ah, da sind Sie ja, Raven«, sagte Card überflüssigerweise. »Warten Sie, ich rücke ein bisschen auf, damit Sie noch Platz auf der Bank haben; einen freien Stuhl werden Sie hier vergeblich suchen. Na, wie geht's Ihrem Maserati?«
»Noch rekonvaleszent«, entgegnete Raven und schob sich neben dem Inspektor auf die polierte Sitzbank aus dunklem Holz. »Wir werden heute Nacht wohl Ihren Wagen nehmen müssen, wenn wir nach Stonehenge hinausfahren.«
Cards freundliches Begrüßungslächeln erlosch mit einem Schlag. »Sie sind also immer noch fest entschlossen, sich auf eine Auseinandersetzung mit Barlaam einzulassen?«, erkundigte er sich. Er war inzwischen auf Ravens Rat hin in alles eingeweiht worden.
Raven schüttelte unmerklich den Kopf. »Ich nicht«, meinte er. »Aber er.« Er deutete mit dem Daumen auf Jeff Target, dessen Gesicht im Augenblick halb hinter der Kante seines Bierglases verschwunden war.
Etwas zu heftig setzte der Amerikaner das Glas auf den Tisch zurück, als er Ravens Worte hörte. »Was bleibt uns denn anderes übrig?«, fragte er hitzig. »Ich könnte zwar weglaufen - nach Amerika zurückfliegen, vielleicht -, aber damit wäre die endgültige große Konfrontation doch nur aufgeschoben, nicht für immer vermieden. Eines Tages, möglicherweise schon in naher Zukunft, werden die äußeren Umstände für Barlaams aberwitzige Pläne erneut günstig sein, und dann wird er mich wieder zu benutzen versuchen. Jetzt habe ich wenigstens Rückendeckung durch zwei vertrauenswürdige Männer, die wissen, dass ich nicht verrückt bin, sondern die Wahrheit spreche - nämlich Sie beide. Außerdem können wir derzeit im Notfall dank der Position unseres Inspektors hier auf die geballte Macht von Scotland Yard zurückgreifen, ein Faktor, den man nicht unterschätzen sollte.«
Er hielt inne, als er sah, wie sich ein junges Mädchen mit einem Tablett der Nische näherte. Erst als sie ein Glas Ale vor Raven abgestellt hatte und wieder in der Menge verschwunden war, sprach er zögernd weiter, sichtlich ein wenig aus dem Konzept gebracht.
»Ich meine ferner, wir sollten nicht vergessen, dass Barlaam bisher mindestens vier, vielleicht fünf Menschen umgebracht hat. Diese Morde, davon bin ich überzeugt, stehen in einem direkten Zusammenhang mit Barlaams Versuch, das Siegel zu öffnen. Es klingt fantastisch, aber wäre es nicht möglich, dass Barlaam zusätzlich zu meinen besonderen Fähigkeiten - wie immer diese auch aussehen mögen - so etwas wie ein Reservoir an menschlicher Lebensenergie benötigt, um das Siegel sprengen zu können? In meinen Augen ist das die einzig logische Erklärung für die Morde - es sei denn, Barlaam folgt einem rein animalischen Tötungstrieb.« Er erschauderte. »Oder er ernährt sich auf diese Weise. Und wenn wir zögern, gibt es vielleicht weitere Morde.«
Raven nahm einen tiefen Zug aus seinem Glas und nickte langsam. Jeff Targets Ausführungen waren unbestreitbar logisch. Allerdings ahnte Raven, dass hinter Jeffs Entschlossenheit, nach Stonehenge zu gehen, noch ein anderes Motiv stand - genauso, wie es geheime, ihm selbst nicht klar bewusste Motive hinter seiner Englandreise gegeben hatte.
Jeff Target fürchtete die Ungewissheit. Er wollte die Entscheidung jetzt und hier. Er war kein Mann, der geduldig warten konnte. Der Gedanke, zu einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft - morgen, in einem Monat, in einem Jahr oder auch erst in zehn oder zwanzig Jahren - aus dem Dunkel heraus von Barlaam angegriffen zu werden, würde ihn in den Wahnsinn treiben.
»Gut«, sagte Card mit beinahe resignierter Stimme. »Dann ist es wohl entschieden. Wir nehmen meinen
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