Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
summendes Geräusch, und ein ganzes Segment der Wand versank vor ihr im Boden.
Dahinter kam ein niedriger, auf eigenartige Weise gekrümmter Gang zum Vorschein, dessen Wände mit barbarischen Fresken und Basreliefs bedeckt waren. Das gleiche eigenartige grüne Licht, das auch die Kammer erhellte, erfüllte den Gang, und aus seiner Tiefe drang ein brummendes, auf- und abschwellendes Geräusch zu ihr herauf, ein Geräusch, das im gleichen Rhythmus schwang wie das Vibrieren der Wände.
Sue zögerte nur wenige Sekunden, ehe sie aufstand und langsam in den Gang hineinging. Der Stollen bog und wand sich auf eine fast Übelkeit erregende Weise, und die Bilder an den Wänden jagten ihr einen eisigen Schauer über den Rücken. Sie zeigten jetzt keine sinnlosen Muster mehr, sondern Wesen, grausig entstellte Ungeheuer, Monster, die das Fassungsvermögen des menschlichen Geistes schlichtweg überstiegen.
Vor allem ein Bild tauchte immer wieder auf - ein titanisches, abgrundtief hässliches Ding mit einem unförmigen Rumpf, aus dessen oberer Hälfte eine nicht genau bestimmbare Anzahl peitschendünner, sich windender Tentakel spross und auf dem übergangslos, ohne jeden Nackenansatz, ein klobiger, missgestalteter Kopf saß, der von einem einzigen Zyklopenauge und einem offenbar scharfkantigen Papageienschnabel beherrscht wurde. Darunter waren Symbole in einer fremdartigen Runenschrift in den Fels gemeißelt.
Sue schauderte, sah sich angstvoll um und ging mit zitternden Knien weiter. Plötzlich überkam sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Unsichtbare Augen schienen in stummer Wut auf sie herabzustarren, und ihr war, als wäre der ganze Stollen von grausamem Leben erfüllt.
Sie erreichte eine Treppe, oder wenigstens etwas, das man mit einiger Fantasie als Treppe bezeichnen konnte. Jede Stufe hatte eine andere Form, keine war gleich hoch, es gab Rampen und kleine, geriffelte Flächen, wie man sie auf Rolltreppen vorfindet. Aber es war zumindest eine Möglichkeit, nach oben zu gelangen.
Langsam begann Sue, die Treppe hinaufzusteigen. Es war nicht so leicht, wie sie gehofft hatte, denn die Stufen waren zum Teil so hoch, dass sie Mühe hatte, sie zu überwinden. Sie war in Schweiß gebadet, als sie die Plattform am oberen Ende der Treppe erreicht hatte. Schwer atmend blieb sie stehen und sah sich um. Die Plattform war groß; ein Rechteck von etwa hundert Metern Seitenlänge, das über einen gewaltigen, dunklen Abgrund ragte.
Ein banges, ängstliches Gefühl beschlich das junge Mädchen, als es sich dem Rand der Plattform näherte. Auf den letzten Metern ließ es sich auf Hände und Knie nieder und kroch bis zum Rand, um vorsichtig hinabzublicken.
Der Anblick war ungeheuerlich. Der Schacht war kreisrund und so gewaltig, dass Sue sein gegenüberliegendes Ende kaum zu erkennen vermochte. Seine Wände fielen senkrecht in die Tiefe, ein unendlicher, kerzengerader Tunnel, der direkt ins Herz der Erde hinabzuführen schien.
Und an seinem unteren Ende, unendlich weit entfernt und doch so deutlich zu erkennen, als befände sie sich direkt darüber, leuchtete ein gigantischer, fünfzackiger Stern aus Licht. Vier der fünf gewaltigen Strahlen glommen nur noch schwach, waren kaum mehr als trüb leuchtende Umrisse. Der fünfte jedoch flammte in greller, sengender Glut.
Und dann geschah etwas Unglaubliches: In der brodelnden blauen Glut begannen sich Linien und Formen abzuzeichnen, kochende Tümpel aus Licht und Seen aus Glut, und dann glaubte Sue, ein Gesicht zu erkennen, gebildet aus flammenden Linien blauen Lichtes.
Es war ihr eigenes Gesicht!
Sie schrie auf, fuhr zurück und sprang mit einem entsetzten Keuchen auf die Füße.
Als sie herumfuhr, stand sie einem Mann gegenüber.
»Nun?«, fragte der Fremde sanft. »Hast du genug gesehen?«
Und plötzlich waren die Erinnerungen wieder da - beinahe so, als sei ein magischer Bann des Vergessens von ihr genommen worden, als die Stimme des Fremden ertönte.
Plötzlich erinnerte sie sich wieder an das Grauen, an das Monster, an den grellen Blitz, der Marc auf so grausame Weise getötet hatte. Zugleich wusste sie, dass sie Marcs Mörder gegenüberstand - dass dieser hochgewachsene, aber durchaus nicht sonderlich auffällige Mann identisch mit dem rasenden Monster war, dem sie droben in der Oberwelt gegenübergestanden hatten.
Sie schrie auf, wich zurück und versuchte, unter den zupackenden Armen des Fremden durchzutauchen. Aber sie war viel zu langsam. Hände von unmenschlicher
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