Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
schützend vorgestreckt, um nicht im Dunkeln gegen ein Hindernis zu prallen, machte er sich auf den Rückweg.
Vier Schritte, fünf Schritte ...
Wo war die Biegung des Ganges? Er hätte sie längst erreichen müssen!
Sechs Schritte, sieben ... zehn, elf ...
Ungläubig blieb Wilbur Cunningham stehen und kratzte sich am Kopf. Elf Yards, vielleicht ein bisschen weniger, da er keine sehr großen Schritte gemacht hatte - das war weiter als der gesamte Weg, den er von der Treppe aus gegangen war. Noch einmal ging er einige Schritte weiter, ohne die Stufen zu erreichen, ehe er erneut verharrte.
Für einen kurzen Moment drohte ihn Panik zu übermannen. Die Dunkelheit war noch immer vollkommen, lastete wie eine massive schwarze Wand um ihn herum, dabei hätte er zumindest längst etwas Licht sehen müssen, das durch die Kellertür hereindrang.
Hatte er sich womöglich in der Richtung geirrt und war statt zurück zum Ausgang tiefer in den Keller hineingegangen? Es war die einzige mögliche Erklärung. Erneut wandte er sich um und ging wieder in die Richtung, aus der er gekommen war, wobei er auch diesmal seine Schritte mitzählte.
Bei fünfzehn verspürte er wieder einen Anflug von Nervosität, bei zwanzig schlug seine Unsicherheit in Angst um, und als er bei dreißig angelangt war, griff erneut Panik nach ihm, diesmal ohne dass er sie sofort wieder verdrängen konnte. Er blieb nicht stehen, sondern ging sogar noch schneller, bis er schließlich fast rannte.
Fünfzig Schritte ... siebzig ... hundert ...
Keuchend lehnte sich Wilbur Cunningham gegen die Wand. Seine Gedanken rasten. Hundert Schritte! So lang war der gesamte Gang gar nicht! In der einen Richtung lag die Kellertreppe, in der anderen hätte er nach spätestens fünfundzwanzig, dreißig Yards auf die stets verschlossene Tür zum Ölkeller stoßen müssen, in deren Nähe sich auch der Sicherungskasten befand. Wie, zur Hölle, war das möglich?
Wilbur hetzte weiter durch die Finsternis. Seine Schritte auf dem Steinboden hallten dumpf von den Wänden wider. Er hatte aufgehört zu zählen, rannte einfach nur noch. Was er hier erlebte, ging über seinen Verstand. Er fühlte sich wie in einem jener Albträume, in denen man lief und lief und dennoch kaum von der Stelle kam, während das namenlose Monster, von dem man verfolgt wurde, immer näher kam.
Plötzlich trat er ins Leere. Unter seinem rechten Fuß befand sich kein Boden mehr; jedenfalls nicht direkt, sondern erst eine gute Handspanne tiefer, etwa die Höhe einer Stufe.
Aber hier gab es keine Treppe! Der Keller war nur eingeschossig!
Wilbur verlor das Gleichgewicht und stürzte die Treppe, die es gar nicht geben durfte, kopfüber hinunter.
Er hatte Glück, dass er sich nicht schon beim ersten Aufprall auf die Stufen das Genick brach. Irgendwie schaffte er es, sich zusammenzukrümmen und seinen Kopf mit den Armen zu schützen, während er tiefer und tiefer nach unten stürzte. Schmerzhafte Schläge trafen seinen Rücken, seine Arme und Beine, als würde ein ganzes Kränzchen wild gewordener Hausfrauen mit ihren Nudelhölzern auf ihn einprügeln, und er hatte das Gefühl, in Dutzende Stücke gerissen zu werden.
Irgendwann gab es einen letzten, besonders heftigen Schlag, und dann war es vorbei. Die Welt hatte aufgehört, sich in eine außer Rand und Band geratene Achterbahn zu verwandeln. Vorsichtig begann Wilbur damit, seine verknoteten Glieder wieder zu entwirren. Er begriff nicht, wieso er noch am Leben war, abgesehen von ein paar Hundert blauen Flecken anscheinend sogar unverletzt.
Aber das war längst nicht alles, was er nicht begriff. Was ihm in den letzten Minuten zugestoßen war, war schlicht und einfach unmöglich. Er war einen kaum zwei Dutzend Yards langen Gang weit über hundert Yards entlanggerannt, war eine Treppe, die es nicht gab, hinuntergestürzt und befand sich nun in einem nur eingeschossigen Keller in einem tiefer gelegenen Stockwerk, das es ebenfalls nicht gab. Normal war das gewiss nicht. Außerdem hatte im Fernsehen wahrscheinlich längst Godzilla begonnen.
Er rappelte sich auf und machte einige vorsichtige Schritte. Noch immer war es stockdunkel um ihn herum, aber in welche Richtung er die Arme auch ausstreckte, er konnte keine Wand ertasten, und seine Schritte verursachten hallende Echos. Anscheinend befand er sich in einem sehr großen Raum.
Ein Stück entfernt nahm er plötzlich einen schwachen grünlichen Lichtschein wahr. Langsam ging Wilbur Cunningham darauf zu. Das Licht
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