Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
ein Grabenkrieg, den keine Seite bislang für sich hatte entscheiden können und der mittlerweile sogar die Justiz in einem jener unsinnigen Verfahren beschäftigte, die sich durch die Vorlage immer neuer Gutachten endlos hinzogen und das Geld der Steuerzahler verschlangen.
Der Friedhof selbst verwilderte während dieser Zeit immer mehr, und vermutlich würde der Streit sich allein deshalb schon in nicht allzu ferner Zukunft zu Ungunsten der Denkmalbehörde erledigen, weil es dann einfach nichts mehr geben würde, das noch in irgendeiner Form schützenswert war.
Die Wege waren kaum zu erkennen und die einstmals gepflegten Grabreihen von fast mannshohem Unkraut überwuchert, zwischen dem nur noch vereinzelt die Überreste mittlerweile ebenfalls längst verwilderter Zierbüsche als bunte Farbtupfer zu entdecken waren. Die meisten der historischen Grabsteine waren umgestürzt und in mehrere Teile zerborsten, aber auch diejenigen, die noch standen, befanden sich in erbärmlichem Zustand. Zumeist ragten sie nur noch schief aus der Erde. Die verschnörkelten Ornamente, wie sie früher üblich gewesen waren, waren abgebrochen, die Inschriften verwittert und von Wind und Regen nahezu ausgelöscht.
Man musste schon eine äußerst verklärte und weltfremde Sicht der Realität haben, um auf diesem Friedhof noch irgendetwas sonderlich romantisch oder gar erhaltenswert zu finden. Raven hatte sich noch nie zu diesem abartigen Menschenschlag gezählt. Für ihn war dies allenfalls ein Mahnmal für Behördenidiotie; außerdem dank zahlreicher Haufen hier dekorativ abgeladenen Mülls ein Drecksloch, das ganzen Rattendynastien als idealer Tummelplatz dienen mochte.
Zum wiederholten Male fragte sich Raven, was zum Henker er hier eigentlich tat. Eine Anwohnerin wollte von ihrem Fenster aus schon mehrfach verdächtige Gestalten nachts auf dem Friedhof gesehen haben und war der festen Überzeugung, dass sich wahlweise entweder die Toten aus ihren Gräbern erhoben oder eine Gruppe Vampire sich auf dem Friedhof eingenistet hatte.
Allerdings war sie der Polizei als Gewohnheitsalkoholikerin bekannt, die sich vor einigen Jahren auch schon von Frankensteins Monster verfolgt gefühlt hatte, bald darauf einem Werwolf und schließlich sogar vom Geist ihrer kurz zuvor gestorbenen Erbtante, die ihr ein nicht unbeträchtliches Vermögen hinterlassen hatte. Entsprechende Aufmerksamkeit hatte man ihren hysterischen Anrufen entgegengebracht. Wohl nur um sie abzuwimmeln, hatte einer der Beamten sie schließlich an den chronisch erfolglosen Privatdetektiv mit dem anrüchigen Ruf eines Spezialisten für übernatürliche Phänomene verwiesen.
Ein Plan, der funktioniert hatte. Die Frau hatte Raven engagiert, dem angeblichen Spuk auf den Grund zu gehen und nach Möglichkeit zu beenden. Natürlich hatte er sofort erkannt, dass es sich hier keineswegs um irgendwelche wirklichen dämonischen Aktivitäten handelte, sondern lediglich um die paranoiden Wahnvorstellungen einer geistig verwirrten Frau, und er hatte einige Skrupel verspürt, sie so einfach auszunehmen.
Aber sie hatte nicht locker gelassen, und da sie es trotz intensivster Bemühungen noch nicht geschafft hatte, ihr gesamtes ererbtes Vermögen in Alkohol umzuwandeln, hatte sie den von ihm geforderten Vorschuss ohne mit der Wimper zu zucken bezahlt. Nicht nur per Scheck, nein, sie hatte ihm das Geld bar in die Hand gedrückt, und diesem Anblick hatte Raven nicht länger widerstehen können.
Er tröstete sich damit, dass er seiner Auftraggeberin auf diese Art wenigstens ein gewisses Gefühl von Sicherheit und Schutz verkauft hatte. Jedenfalls hatte sie äußerst erleichtert, fast schon glücklich gewirkt, als er sie verließ.
Außerdem - Geld stank nicht und gehörte darüber hinaus zu den Dingen, an denen er permanenten Mangel litt. Mit seiner Karriere stand es nicht gerade zum Besten - hatte es genau genommen nie zum Besten gestanden.
Aber auch wenn Raven sich sicher war, dass es zu diesem Auftrag eigentlich gar keinen Fall gab, war er entschlossen, ihn ebenso gewissenhaft und gründlich wie jeden anderen auch anzugehen. Aus diesem Grund führte er diesen Lokaltermin durch, um sich ein Bild von dem Einsatzgebiet zu machen.
Nicht weit von ihm entfernt ragte aus dem Unkraut die steinerne Statue eines Engels auf. Ihr Kopf war weitgehend zerstört; den Spuren zufolge war sie offenbar von Jugendlichen als Zielscheibe für das Schießen mit Luftgewehren missbraucht worden. Womöglich handelte es
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