Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Titel: Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
wurde heller, je mehr er sich ihm näherte, und schließlich konnte er erkennen, dass es durch die Ritzen einer nicht ganz geschlossenen Tür sickerte.
    Als er sie erreichte, verharrte er kurz und atmete tief durch. Er verspürte keinerlei Angst mehr. Mit einem entschlossenen Ruck riss er die Tür auf ...
    Selbst in einem so traditionsbewussten Land wie Japan war ein den klassischen Traditionen so eng verbundener Mann wie Akira Osaki eher eine Ausnahme. Jahrhunderte kultureller Beeinflussung aus dem Ausland, vor allen den USA, hatten auch im Land der aufgehenden Sonne ihre Spuren hinterlassen und das Denken der Menschen verändert.
    Für Akira jedoch waren Traditionen nicht nur Worte. Ihm galten die klassischen Ideale noch etwas. Er glaubte an Tugenden wie Fleiß, Disziplin, Gehorsam, Ehre, Selbstlosigkeit ...
    Er begann versonnen zu lächeln. Die Selbstlosigkeit nahm in seinem Wertekatalog vielleicht doch keinen ganz so hervorstechenden Platz ein. Selbst bei großzügigster Auslegung konnte man es nicht unbedingt als selbstlos bezeichnen, dass er in den vergangenen Monaten hier ein paar Dokumente hatte verschwinden lassen und dort ein paar Unterschriften gefälscht hatte, um seinem langjährigen, dicht vor einer Beförderung stehenden Konkurrenten Takana die Schuld für die Bewilligung einiger viel zu hoher Kredite für eine nun bankrott gegangene Immobiliengesellschaft in die Schuhe zu schieben. Dessen Karriere hatte daraufhin einen rapiden Knick nach unten erlitten, und ein klein wenig Eigennutz mochte im Spiel gewesen sein, als Akira an Takanas Stelle die Beförderung auf den freien Platz im Direktorium der Bank akzeptiert hatte.
    Nein, dachte er, Selbstlosigkeit war keine der Tugenden, die man sonderlich hoch ansiedeln sollte, wenn man es zu etwas bringen wollte. Ehre und Würde beispielsweise waren weitaus bedeutender. Das hatte Takana vergessen, und genau das hatte ihm letztlich das Genick gebrochen. Hätte er die ihm zur Last gelegten Verfehlungen demütig eingestanden - auch wenn er sie gar nicht begangen hatte -, wäre er vielleicht mit einem blauen Auge davongekommen und hätte die Beförderung doch noch bekommen. Durch seine verzweifelten Versuche, seine Unschuld zu beteuern und sich herauszureden, hatte er jedoch in den Augen des Direktoriums seine Würde verloren und seine Ehre beschmutzt.
    Die alten Traditionen, fand Akira, waren wirklich etwas Wunderbares. Außerdem hatte er die Beförderung sowieso viel mehr verdient. Immerhin hatte er im Gegensatz zu diesem karrieregeilen Streber Takana, der nur für das Wohl der Firma zu leben schien, eine Familie zu versorgen.
    Akiras Lächeln wurde noch ein bisschen breiter, während er aus einem Fenster der kleinen Bar in der Nähe des Hafens von Tokio starrte, von wo aus man einen wunderbaren Blick auf das Meer hatte. Er mochte das Lokal, zu dem nur ein exklusiver kleiner Kreis an Gästen überhaupt Zutritt hatte, sodass es von der Schwemme ausländischer Touristen verschont blieb. An diesem Abend war er der bislang einzige Gast; es war noch früh. Er war auf einen Drink hergekommen, um seinen Erfolg eine Weile in aller Ruhe allein mit einem sündhaft teuren Drink zu feiern.
    Anschließend würde er nach Hause fahren und Mariko die frohe Nachricht überbringen. Sie würde wegen der Beförderung und der damit verbundenen Erhöhung seines Gehalts völlig aus dem Häuschen sein und ihn zum Feiern vermutlich in einen dieser meist überfüllten Tanzschuppen schleppen, die sie ebenso liebte, wie er sie verabscheute, aber an diesem Abend würde er auch das ertragen.
    Ja, dachte Akira, das Leben meinte es wirklich gut mit ihm.
    In diesem Moment spürte er die Erschütterung. Ein dumpfer, leichter Stoß lief durch den Boden. Die Oberfläche des Drinks vor ihm auf dem Tisch begann sich zu kräuseln.
    Sekunden später erfolgte ein weiterer, diesmal deutlich stärkerer Stoß. Sein Drink schwappte über. Akira sprang auf.
    Ein Erdbeben!, durchfuhr es ihn.
    Beben waren in Japan keine Seltenheit. Sie ereigneten sich sogar so häufig, dass dies als wichtiger Punkt bei der Konstruktion und dem Bau von Häusern einfloss, doch die allermeisten waren zum Glück so leicht, dass man sie kaum spürte.
    Dieses hier schien jedoch nicht in diese Kategorie zu gehören. Es gab eine weitere, noch einmal ungleich härtere Erschütterung des Bodens. Einige Ziergegenstände fielen von einem Regal. Eine Lampe löste sich aus ihrer Verankerung an der Decke und stürzte krachend auf einen Tisch.

Weitere Kostenlose Bücher