Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
zweiten Mal an diesem Morgen die Beine aus dem Bett. Er hatte das Gefühl, unendlich albern auszusehen, als er nackt und mit bandagiertem Bein zum Zimmertelefon hinüberhoppelte und die Nummer des Roomservice wählte. »Ja, hier Zimmer 37. Bitte ein Frühstück für zwei Personen, Kaffee für vier. - Bitte? - Ja, Frühstück für zwei, Kaffee für vier. Das haben Sie schon ganz richtig verstanden.«
Als er sich umdrehte, war Melissa schon nicht mehr im Zimmer. Im Bad begann die Dusche zu prasseln. Achselzuckend zog sich Raven den Bademantel über, den er am Vortag in den Schrank gehängt hatte, und setzte sich auf einen Stuhl, um die Ankunft des Zimmerkellners zu erwarten.
Eine eiskalte Dusche, fünf Minuten Zähneputzen, drei Croissants und einen Liter Kaffee später fühlte sich Raven beinahe wieder menschlich. Mit einem Aufseufzen lehnte er sich zurück, verschränkte die Hände hinter dem Nacken und reckte und streckte sich wie ein alter Hund. Er sehnte sich nach einem bisschen Sonne, aber der Nebel draußen vor dem Fenster hatte sich noch nicht einmal so weit gelichtet, dass es sich gelohnt hätte, die Vorhänge aufzuziehen. Sie hatten bei Lampenlicht gefrühstückt.
Raven blickte Melissa an, die Geliebte einer Nacht und jetzt ein brennender Schmerz in seiner Brust. Sie hatte das Frühstück kaum angerührt bis auf den Kaffee.
»Warum bist du eigentlich in Paris?«, erkundigte er sich. »Ich war ganz schön überrascht, dich plötzlich vor dem Kristallschädel stehen zu sehen.«
Sie lächelte nicht und versuchte nicht einmal, auf seinen lockeren Tonfall einzugehen. »Ich bin noch vorgestern nach Paris geflogen, um hier an einer Fachkonferenz teilzunehmen, die Albert parallel zur Ausstellung im Centre organisiert hat«, erklärte sie emotionslos. »Es geht schwerpunktmäßig um die Maya-Steinbauten von Copan - das ist in Honduras, falls du es nicht wissen solltest. Der größte Teil dieses Areals ist noch nicht ausgegraben, und die Konferenz hat das Ziel, die weiteren Arbeiten dort vorzuplanen. Und warum bist du hier?«
»Weil der Pariser Kristallschädel der einzige Ansatzpunkt ist, den ich habe«, sagte Raven. Er legte seine Finger zu einem Dach zusammen und stützte sein Kinn darauf, bevor er weitersprach. »Weißt du, ich habe einen Freund bei Scotland Yard, Inspektor Card. Card vom Yard - reimt sich sogar. Nachdem du vorgestern weg warst, habe ich ihn angerufen und ihn gebeten, sich die Akte über den Diebstahl eures Schädels - also des Schädels im Britischen Museum - kommen zu lassen. Card ist zwar bei der Mordkommission, aber er kommt auf dem Wege der Amtshilfe natürlich an alle Akten heran, die er benötigt. Er hat sich die Unterlagen mit nach Hause genommen, wo ich sie mir abends durchsehen konnte. Inoffiziell, versteht sich. Die Ergebnisse sind denkbar mager - schließlich hat die Polizei den Fall ja auch nicht gelöst. Nirgendwo ein Hinweis, der so heiß wäre, dass ich ihm selbst nachgehen müsste.«
Er biss sich auf die Unterlippe.
»Natürlich gibt es den einen oder anderen Punkt, bei dem es sich nachzuhaken lohnen könnte, aber das alles kann auch meine Assistentin - meine Verlobte - erledigen. Wahrscheinlich wird sie sich gestern im Laufe des Tages auch schon mit deinem Kollegen, diesem Hazelwood, in Verbindung gesetzt haben. Wenn sie etwas herausbringt, ruft sie mich hier im Hotel an.«
Melissa sagte nichts. Raven fuhr also fort: »Nachdem ich bei der Durchsicht der Akte nicht fündig geworden war, musste ich mich fragen, welche anderen Möglichkeiten es noch gibt, die Spur der Diebe aufzunehmen. Die Antwort lag auf der Hand. Die Täter würden sich nicht mit Halbheiten begnügen. Wer zwei Kristallschädel stiehlt, stiehlt auch vier. Und da ein Flug nach New York in meinen Augen nicht mehr zu den vertretbaren Belastungen meines Spesenkontos zählt, blieb eigentlich nur noch Paris übrig.«
»New York hättest du auch aus anderen Gründen streichen können«, warf Melissa trocken ein. »Ich habe gestern im Rahmen der Konferenz mit Greely vom Museum of American Indians gesprochen. Der New Yorker Kristallschädel ist offenbar doch nicht bloß unter einem Wust anderer Exponate in den Magazinen verschwunden. Sie haben Anzeige wegen Diebstahls erstattet.«
Raven nickte langsam. Jetzt hatten die Unbekannten also schon drei der Kristallschädel in ihrer Hand. Vielleicht sogar mehr, wenn es Kristallschädelfunde gab, von denen die Öffentlichkeit nie etwas erfahren hatte.
Aber was, um alles
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