Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
sie an Raven vorbei auf einen Punkt irgendwo hinter ihm in der Luft des Raumes starrten. »Ich habe keine Erklärung.«
»Aber ich habe eine«, sagte Raven eindringlich. »Der Gehilfenschädel ist von außen aktiviert worden - vom Meisterschädel, nehme ich an. Und das wiederum kann eigentlich nur eines bedeuten: Der Meisterschädel ist in Paris.«
Ruckartig stand er vom Frühstückstisch auf und zog Melissa mit hoch.
»Los, komm. Wir fahren ins Centre. Vielleicht kommen wir noch nicht zu spät ...«
Die gigantische gläserne Röhre, die schräg von unten links nach oben rechts über die gesamte Fassade des Centre Georges Pompidou führte, quoll trotz ihrer Größe beinahe über vor Menschen. Sie flossen über die Rolltreppen, die sie in zähen Strömen hinauf- und herabkanalisierten, schwappten in unruhigen kleinen Wellen über die Zwischenplattformen und brandeten in wild verquirltem Hin und Her durch die Pfortenmäuler aus Glas und Stahl ins Innere dieses kubistischen Ungeheuers.
Auf all das achtete der Mann nicht, der wie ein Schlafwandler durch die Menschenmassen schritt. Das lag nicht zuletzt auch daran, dass er die Welt rings um sich nicht mehr so wahrnahm wie ein gewöhnlicher Mensch. Er bewegte sich durch ein Reich der Schatten, eine Welt jenseits der Raumzeit, eingehüllt in etwas, das ein sehr fantasiebegabter Physiker vielleicht mit dem Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs verglichen hätte und ein ESP-Spezialist mit einer Art psionischer Aura. Es war mehr und weniger als das.
Es war ein Dunkler Schirm, gebildet mit Hilfe Schwarzer Magie - der Schwarzen Magie von Maronar.
Sah der Mann im Inneren dieses Dunklen Schirms die Menschen draußen nur als graue Schatten, so sahen diese Menschen ihrerseits ihn überhaupt nicht - es sei denn als Störung in der Organisation ihres Wahrnehmungsfeldes. Zahlreiche Besucher des Centre empfanden jähen Schwindel, weil rechte Winkel plötzlich keine rechten Winkel mehr waren, sondern ein bisschen mehr und ein bisschen weniger maßen als neunzig Grad, und das zur selben Zeit, oder weil auf einmal zwei Objekte in keinerlei erkennbarem Perspektionsverhältnis mehr zueinander standen, sondern, an normalen Wahrnehmungsstrukturen gemessen, völlig unorganisiert und ohne jede räumliche Beziehung existierten, obwohl sie sich noch vor Sekunden dicht neben- oder hintereinander befunden hatten.
Weil der Verstand der Menschen, die Zeugen dieser absurden Vorgänge wurden, so etwas nicht verkraften konnte, vergaß er alles auf der Stelle wieder. So blieb der Eindringling am Ende völlig unbemerkt.
Der Eindringling war Nick Jerome. In einer ganz gewöhnlichen Plastik-Einkaufstüte führte er das Gebilde mit sich, das diesen Dunklen Schirm erzeugte: den Meisterschädel aus dem Wrack der ESPERANZA. Ziel Nick Jeromes war der Raum, in dem der Pariser Kristallschädel ausgestellt wurde und den er bisher nur in Form von Visionen kannte. Trotzdem bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, den richtigen Weg zu finden, denn der Meisterschädel leitete ihn mit unfehlbarer Sicherheit.
Wie eine an langen, unsichtbaren Fäden geführte Marionette schwankte Nick Jerome vorwärts. Die Flamme seiner eigenen, vormals so starken Persönlichkeit flackerte jetzt nur noch klein und krank irgendwo tief drinnen in den Abgründen seines zerstörten Ichs.
Er merkte es nicht. Er fühlte sich groß, mächtig, unbezwingbar - eine Illusion, die eine Folge der pulsierenden Seelenenergie war, die der Schädel durch seinen Körper strömen ließ, um ihn voranzutreiben. Aber diese Seelenenergien nährten Nick Jerome schon lange nicht mehr.
Sie zehrten ihn vielmehr auf.
Die hochgewachsene Gestalt torkelte weiter. Rings um sie wölbten sich graue Schatten entlang verformter Raum-Zeit-Gradienten, schwammen seitwärts an ihm vorbei wie Bilder über die Oberfläche eines konvexen Zerrspiegels und gischteten hinter ihm wieder zurück in ihr normales raumzeitliches Koordinatensystem. Langsam wurde die Kielwasserspur des Dunklen Schirms länger und länger, erstreckte sich von der Eingangspforte des Centre hinauf durch die Rolltreppenröhre und hinein in das Gebäude selbst. Schräge Ebenen hinauf und hinab, durch Ausstellungsräume hindurch, Treppen und Gänge entlang ...
Unaufhaltsam näherte sich der Zombie Nick Jerome dem Raum mit dem Pariser Schädel ...
DA IST ER.
Schwerfällig hob Nick Jerome den Kopf.
Aus einem Durchgang unmittelbar vor ihm strömte bernsteingelbes Licht. Nick Jerome blieb mitten im
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