Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
in der Welt, mochten sie bloß mit den Kristallschädeln wollen? Was konnte man mit einem Kristallschädel alles anfangen?
Die Antwort auf diese Frage gefiel Raven ganz und gar nicht.
Man konnte zum Beispiel Menschen in Amokläufer verwandeln. Man konnte sie steuern wie Roboter aus Fleisch und Blut und ihnen am Ende sogar noch ihre Seele stehlen. Aber wie ging das vor sich? Was war so ein Kristallschädel eigentlich? Ein positronisches Gehirn aus voratlantischen Zeiten, wie manche Theoretiker vermuteten? Ein kultisches Instrument aus äonenalter Vergangenheit, mit dessen Hilfe kosmische Energien gebündelt und zu verderblichem Wirken nutzbar gemacht werden konnten?
Oder - die stoffliche Manifestation eines Dämons?
Mit einem Ruck beugte sich Raven vor und schloss mit hartem Griff die Finger um Melissas Handgelenk.
»Jetzt müssen wir mal Tacheles reden«, sagte er scharf. »Du weißt mehr über die Schädel, als in deinen verdammten Dossiers steht, nicht wahr? Raus mit der Sprache - was ist das für Schwarze Magie, die in den Schädeln steckt? Du weißt es, gib's doch zu!«
Melissa blieb ganz ruhig. Sie schien den Druck seiner Finger gar nicht zu bemerken.
»Schon mal was von Rhine gehört?«, erkundigte sie sich scheinbar zusammenhanglos.
Raven hob eine Augenbraue. »Der Psi-Forscher?«, fragte er.
Melissa nickte. »Genau der. Er hat eine Reihe von Tests ausgearbeitet, um den Psi-Quotienten einer Versuchsperson herausfinden zu können. Aus Spaß und um mir nebenbei ein bisschen Geld zu verdienen, habe ich während meines Studiums bei einem Dozenten meiner Universität an einer solchen Testreihe teilgenommen. Ich bin psi-sensitiv, Raven, in hohem Maße sogar. Ich kann jeden archäologischen Fund datieren, indem ich meine Hand darauf lege, Raven, glaubst du mir das? Das ist eine sehr schöne und praktische Begabung - nichts Unheimliches daran. Sie hat mir niemals Angst gemacht - bis zu jenem Tag, als ich im Britischen Museum, meiner ersten Arbeitsstätte nach der Universität, auf den Kristallschädel stieß und ihn anfasste. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn man die Hand in flüssigen Sauerstoff taucht? Nein? Nun, ich kann es seit diesem Tag. Der Schädel war alt, Raven, unsagbar alt, und er verströmte eine Kälte, wie ich sie nie zuvor gespürt hatte. Milliarden Jahre, Raven ...
Und ich besitze noch andere Begabungen, Raven. Man könnte es Telepathie nennen, aber es funktioniert anders, als man in einschlägigen Romanen liest. Ich brauche Stunden, um mich auf einen Geist einzuschwingen. Das ist, nebenbei bemerkt, auch gut so, denn wäre es anders, würde ich dauernd mit fremden Gehirnen in Rapport gelangen und den Verstand verlieren. Ich mache es nicht oft, nur im Labor, unter genau kontrollierten Bedingungen. Aber als ich dem Kristallschädel gegenüberstand, sprach dieser Sinn auf einmal an. In dem Kristallschädel steckt ein Verstand, Raven. Er schlief, betäubt wie unter Drogeneinfluss, aber er war da. Und ich war so verrückt, mich auf ihn einzuschwingen. Es dauerte nur Sekunden! Ich war völlig überrumpelt. Und dann kamen die Bilder - die Bilder, Raven ...«
Bei den letzten Sätzen war ihre Stimme immer schriller und hysterischer geworden. Raven drückte ihr das Handgelenk, bis er Angst haben musste, ihr den Knochen zu brechen. Langsam kam sie wieder zu sich; sie lächelte sogar ein bisschen.
»Du bist der zweite Mann, dem ich das hier erzähle«, sagte sie versonnen. »Der erste war Sir Anthony, mit dem ich damals gerade ... Aber das ist jetzt nicht wichtig. Jedenfalls glaubte er mir nicht. Er brachte mich soweit, dass ich mir fast schon selber nicht mehr glaubte. Tagträume, Jet, pflegte er zu sagen. Das war so beruhigend ... Aber nachts kamen die Bilder wieder ... Diese Bilder ...« Ihre Stimme brach.
»Er war schon immer ein ungläubiger Thomas, was okkulte Phänomene angeht«, warf Raven hastig ein, um sie aus ihrem ganz privaten Albtraum aufzurütteln. »Als wir uns zum ersten Mal am Chat-el-Arab trafen, hat er mir auch nicht glauben wollen, dass ein Dämon mich und meine Begleiter durch ein Schattenreich dorthin entführt hatte. Seit der Geschichte mit seiner Tochter Hillary allerdings - sie wäre beinahe einer dämonischen Macht in den U-Bahn-Katakomben unter London zum Opfer gefallen - scheint sich da in seiner Einstellung einiges gewandelt zu haben. Jetzt hält er Übersinnliches wohl immerhin für möglich, sonst hätte er dich ja nicht ausgerechnet zu mir geschickt, als
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