Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
sich daran ab, während er sich in eine sitzende Haltung aufrappelte.
Allmählich wurde sein Verstand wieder klar, und das war, wie er rasch feststellte, schlimmer als die Benommenheit zuvor.
Er erinnerte sich nämlich - erinnerte sich an den Mann, den die Schädel in den Wahnsinn getrieben hatten.
Erinnerte sich und schluchzte auf.
Widerwillig, mit einer ungeheuren Kraftanstrengung, wandte er den Kopf.
Dort, auf dem Bett, thronte der Meisterschädel, der an all diesen Gräueln schuld war - und der ihn, Nick Jerome, mit der Seelenenergie der Gemordeten fütterte und ihn dadurch süchtig machte.
Süchtig nach dem Tod ...
»Du - du ...«, stammelte der Mann am Boden und kroch auf den Knien vorwärts, näher an den Kristallschädel heran. Welche Macht steckte jetzt, da es sich mit einem anderen Geist von gleicher Art zusammengekoppelt hatte, in diesem unheiligen Ding?
Nick Jerome erschauerte vor Grauen beim Gedanken daran. Doch nicht genug damit, dass sich der Schädel aus dem Wrack der ESPERANZA - was für eine perverse Ironie, der Name! - und der Pariser Schädel miteinander verbunden hatten. Es gab ja noch zwei weitere Schädel, den in New York und den in London ...
Vier Kristallschädel, durchfuhr es Nick Jerome. Vier Kristallschädel - nicht vierfache, nein, hundertfache, tausendfache Macht bedeutet das! Und ich bin das Werkzeug dieser Ungeheuer, der, der sie zusammenbringt ...
Was mochte ihr Ziel sein? Die Welt zu beherrschen?
Nick Jerome schluchzte auf und brachte sein Gesicht ganz dicht an das des Kristallschädels heran, so dicht, dass fast nichts mehr die beiden Gesichter voneinander trennte.
»Ich hasse dich«, flüsterte er heiser. »Oh, wie ich dich hasse! Ich möchte dich zerstören, dich vernichten ... Aber ich brauche dich auch, wie ein Süchtiger sein Rauschgift. Ohne dich muss ich sterben, nicht wahr?«
Der Schädel antwortete ihm nicht. Die Qual seines Dieners war ihm vollständig gleichgültig. Ihn interessierten nur seine eigenen, für gewöhnliche Menschen unverständlichen Ziele.
»Was soll ich tun, um mir deine Gunst zu erhalten?«, wisperte Nick Jerome. »Sag mir, was soll ich tun, o Meister?«
Die Stimme war ein Gewitter in seinem Kopf. HOLE DEN ANDEREN SCHÄDEL.
»Wie soll ich das bewerkstelligen? Die Wärter ... Nach diesem Vorfall ...«
GEH IN DAS GROSSE HAUS, WENN SEINE TORE OFFEN SIND, UND NIMM DEN SCHÄDEL AN DICH. ES WIRD DIR NICHTS GESCHEHEN.
»Ich soll den Schädel am helllichten Tag aus dem Centre holen? Aber das ist doch heller Wahnsinn, Meister! Die Wärter werden mich sofort verhaften!« Nick Jeromes Zähne schlugen wie im Fieber aufeinander. Seine Knie konnten ihn kaum noch tragen, und langsam rutschten seine Ellenbogen vom Bettrand ab. Er sank zu Boden, lag da wie ein Toter.
SIE WERDEN DICH NICHT EINMAL SEHEN. NICHT, WENN ICH BEI DIR BIN. DEINE WIRKLICHKEIT WIRD NICHT DIE IHRE SEIN.
»Aber ...«
GEHORCHE.
Das fahlgraue Licht des Morgens filterte durch die zugezogenen Gardinen und tropfte wie bei einer chinesischen Wasserfolter auf Ravens Augenlider. An seine Ohren drang fernes Hupen, Reifenquietschen und Motorengedröhn. Seine Nase fing den dichter werdenden Benzindunst auf, der durch den Fensterspalt hereindrang. Irgendwo schwatzten schrecklich laut Menschen miteinander, klapperten Schuhe auf Pflaster und auf Asphalt, fuhren Rouleaus mit knallenden Geräuschen in die Höhe. Die Stadt Paris erwachte.
Raven tat es ihr gleich. Ächzend und stöhnend setzte er sich langsam auf und gähnte ungeniert. Behutsam, um Melissa nicht zu wecken, schob er die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Als er sein Gewicht von der Bettkante auf die Füße verlagerte, durchzuckte ein feuriger Schmerz sein bandagiertes Bein. Schmerzhaft, aber ungefährlich, hatten die Ärzte im Krankenhaus gesagt. Naja.
Auf nackten Füßen tappte er in Richtung Fenster und zog den mit grauem Morgen vollgesogenen Vorhang ein Stückchen beiseite. Nebel lag über der Stadt. Raven fiel die alte Metapher mit dem Leichentuch ein. Seine Stimmung sank noch um einige Grade. Er schlug den Vorhang wieder vors Fenster. Als er fröstelnd der Welt draußen den Rücken kehrte und quer durch den Raum in die Wärme des Bettes zurückschlurfte, fiel sein Blick auf die Wanduhr.
Halb sieben. Er hatte kaum dreieinhalb Stunden geschlafen. Es sah auch nicht danach aus, als würde er noch viel Schlaf kriegen. Die Gedanken, die er gestern Abend - heute Nacht - so mühsam zurückgedrängt hatte, brachen
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