Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
jetzt über ihn herein wie eine Lawine aus schwerem, nassem Schnee. Legten sich auf seine Brust und drohten ihn zu ersticken.
Er schlüpfte vorsichtig unter die Decke und drehte sich langsam auf die linke Seite, bis seine Knie fast Melissas Hüfte berührten.
Melissa merkte nichts davon. Sie schlief weiter, reglos, locker in sich zusammengerollt, wie es manche Frauen fertig bringen und alle Katzen.
Eine unverwechselbare Wärme ging von ihr aus, die die Härchen an Ravens Bein sich aufstellen ließ. Zögernd streckte er die rechte Hand aus und zeichnete damit die Konturen ihres Körpers nach. Seine Fingerspitzen blieben dabei immer einige Millimeter über ihrer Haut.
Raven zog die Hand zurück und nagte an der Nagelhaut seines rechten Daumens. Ihm war nur noch schlecht. Die Zuneigung, die er für Melissa empfunden hatte, hatte sich in einen profunden Ekel vor sich selbst verwandelt. Die Decke auf den Knien, saß er im kalten Licht des Morgens auf dem Bett und suchte nach Entschuldigungen. Er hatte das Gefühl, gleich zwei Mal ins Messer gelaufen zu sein. Das zweite Messer schmerzte mehr als das des Amokläufers.
»Raven?«
Er fuhr zusammen, blickte träge auf. Viertel nach neun. Sein Rücken und seine Schultern waren steif vor Kälte. Melissas Finger verbrannten seinen Nacken. Melissa. Jet. Gestern Abend hatte er daran gedacht, dass dieser Spitzname wegen des enormen Tempos zu ihr passte, mit dem sie durch ihr Leben stürmte. Jetzt überlegte er, ob er sich nicht auch darauf beziehen mochte, wie sie durch das Leben anderer stürmte. Zum Beispiel durch sein Leben.
»Raven ... Was ist denn mit dir los?«
Ihre Stimme war sehr fern und körperlos, war praktisch gar nicht da. Wenn er sie überhörte, konnte er vielleicht das alles ungeschehen machen, bewirken, dass das alles nie gewesen war. Dann hatten sie sich vielleicht nie geliebt bis hin zur völligen Erschöpfung, um Blut und Tod aus ihren Köpfen zu vertreiben; hatten nie den absurden Versuch unternommen, mit ihren eigenen Körpern einen Wall zu errichten gegen den Strom von Bildern und Erinnerungen, in deren Mittelpunkt immer wieder ein Eindruck stand: der teuflisch glühende Kristallschädel im Centre Georges Pompidou, von dem gestern Abend die Vorboten eines Unheils ausgegangen waren, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte.
»Raven ... Komm wieder zu dir ... Bitte bitte, komm doch wieder zu dir, Raven ...«
Irgendjemand schluchzte. Irgendwo blitzte ein Opferdolch.
»Raven ...«
»Ich bin schon wieder da, Melissa. Entschuldige.« Er atmete einmal, zweimal, dreimal ganz tief durch. Dann sah er Melissa ins Gesicht, und es war ihm dabei, als blickte er in einen Spiegel. Ihre graugrünen Augen waren rotumrändert von zu wenig Schlaf, die goldenen Pünktchen darin fast nicht zu sehen. Eine dünne, nasse Spur führte auf jeder Seite ihrer Nase herab bis zu den müden Winkeln ihres Mundes, um die sich scharfe Fältchen kräuselten. Sie mochte ein paar Jahre älter sein als er, eine überraschende Entdeckung. Sie war robust und stark und hilflos und zerbrechlich. Sie war sehr schön.
Raven küsste sie sanft auf den Mund, aber so, wie er auch eine Schwester geküsst hätte. Als sie die Lippen öffnete, zog er den Kopf zurück.
»Verzeih mir«, sagte er. »Ich kann das nicht. Ich habe dir heute Nacht etwas nicht gesagt.«
Ihre Augen fingen das graue, nebelgetönte Licht von draußen ein und wurden aschen. »Verheiratet?«
»Verlobt.«
Zum ersten Mal in seinem Leben begriff er, dass er im tiefsten Innern seines Wesens altmodisch war. Ein Puritaner, ein Mann mit überholten Idealen. Ein Bogart für Arme, dachte er verbittert, ohne Ethik, aber mit Moral. Er wusste, dass er sich damit zu hart einschätzte, aber er wollte sich diesmal wehtun, mindestens so weh, wie er Melissa durch seine Unehrlichkeit weh getan hatte. Und Janice, wenn sie je davon erfuhr.
Dahin, dachte er mit einem letzten Rest von Ironie, kommt man, wenn man sich in der Wirklichkeit aufführt wie die Helden im Roman. Der harte Privatdetektiv verliebt sich in die schöne Klientin. Ja, das ist alles sehr romantisch.
»Ich brauche Kaffee«, sagte er leichthin. »Frühstücken wir hier im Zimmer?«
Sie zog die Knie an und legte die Decke um sich, fast so, als könnte sie es nicht ertragen, dass er sie jetzt noch nackt sah. »Von mir aus«, entgegnete sie stumpf. »Wir müssen eine ganze Menge miteinander bereden - was die Kristallschädel angeht, meine ich.«
Er nickte langsam und schwang zum
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