Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
nächsten Schritt stehen. Sein rechter Fuß, der sich gerade hatte herabsenken wollen, hielt Zentimeter über dem Boden in der Luft inne und blieb dort reglos schweben - eine unerträglich anstrengende Stellung, aber der Zombie machte keinerlei Anstalten, sie zu ändern.
Automatengleich hielt sein Körper mit winzigen Nervenimpulsen das prekäre Gleichgewicht. Nur seine Muskeln und Sehnen zuckten verkrampft unter der ungeheuren Anspannung.
»Aber - aber die Wärter«, flüsterten tote, kalte Lippen. »Das Licht ...«
... IST NUR VON DIESER EBENE AUS ZU SEHEN, dröhnte der Kristallschädel. GEH WEITER.
Der Zombie gehorchte. Sein Fuß sank auf den Boden, als sei die Bewegung nie unterbrochen worden. Drei, vier, fünf Schritte - dann stand die unsichtbare Gestalt mitten im Ausstellungsraum.
Jenseits der Barriere des Dunklen Schirms, in jenem Schattenreich, das die reale Welt war, hielten sich noch andere Menschen hier im Raum auf.
Der Zombie sah sie nicht. Er hatte nur noch Augen für den Schädel, der auf seinem Polster aus rotem Samt in der Vitrine ruhte. Das bernsteingelbe Glühen, das von ihm ausging, pulste in langen Wellen, träge und bedrohlich.
Mit einem letzten Schritt erreichte der Zombie die Vitrine, legte seine Finger auf den gläsernen Kasten. Ein schwacher Strom durchzuckte ihn, elektrisch kühl und bitter. Energien flossen rasch hin und her, verbanden sich zu einem unsichtbaren Funkenbogen.
Und dann dehnte sich der Dunkle Schirm aus.
Unendlich langsam durchdrang er das Glas der Vitrine und schloss sich wie ein Fischernetz um den Pariser Schädel. Hob ihn hinaus aus seinem Kasten, hinaus aus der normalen Welt.
Der Meisterschädel kreischte wie ein Dämon im Vorgefühl des nahen Triumphes. DER SIEG! DER SIEG! DAS SCHWARZE MARONAR WIRD WIEDER SEIN! DAS SCHWARZE MARONAR ...
Abrupt verstummte er.
Nick Jerome schrak zusammen, als der trübe Schleier, der eben noch über seinem Bewusstsein gelegen hatte, übergangslos zur Seite gerissen wurde. Die Flamme seines Ichs flackerte plötzlich wieder heller auf, brannte so rein und so klar wie lange, lange Zeit nicht mehr.
Ein ungläubiges Stöhnen entrang sich Nick Jeromes Kehle. Mit albtraumhafter Deutlichkeit sah er, was der Kristallschädel in den letzten Tagen und Wochen aus ihm gemacht hatte, erblickte die klaffenden Wunden, die der vampirische Geist des Magiers in sein Ich gerissen hatte und die so tief waren, dass sie nie wieder verheilen würden.
Begriff, dass er sterben musste.
Ihm blieben nur noch Stunden.
Aber in diesen Stunden würde er versuchen, Rache zu üben, das schwor er sich in diesem Augenblick. Rache nicht so sehr für sich selbst, sondern vielmehr für seine Kameraden Jeff und José, die er mit eigener Hand getötet hatte, im dämonischen Banne des Meisterschädels stehend. Rache auch für den bedauernswerten Amokläufer.
Rache für all die Millionen, die der Meisterschädel in allen Zeitaltern der Erde auf dem Gewissen hatte!
Aber wie kam es überhaupt, dass er diese Gedanken denken konnte? Was war geschehen, dass sich der Geist des Meisterschädels von ihm zurückgezogen hatte?
Zögernd, von einer unbestimmten Angst erfasst, richtete Nick Jerome seine Aufmerksamkeit wieder auf die äußere Welt.
Er blickte direkt in das Gesicht von Melissa McMurray.
Raven und Melissa stürmten wie zwei fleischgewordene Wirbelwinde in den Ausstellungsraum mit dem Kristallschädel.
Der Taxifahrer, der sie zum Centre Georges Pompidou gebracht hatte, hatte wahrscheinlich einen neuen Streckenrekord aufgestellt. Dass er dabei sämtliche französischen Verkehrsregeln brechen musste, schien ihn nicht weiter aufzuregen. Zu dieser Seelenruhe trug sicherlich der hohe Geldschein, den Raven ihm vor Beginn der Fahrt in die schwielige Hand gedrückt hatte, eine ganze Menge bei.
Auf dem Weg nach oben hatten sich Raven und Melissa herzlich wenig um die wütenden Blicke der anderen Museumsbesucher gekümmert, an denen sie sich vorbeidrängten oder die sie, wenn es gar nicht anders ging, auch einfach beiseite stießen, um schnell genug vorwärts zu kommen. Hier ging es um zu viel, als dass sie übertriebene Rücksichten hätten nehmen können.
Mit keuchenden Lungen und hämmernden Herzen erreichten die beiden schließlich ihr Ziel - und blieben wie vom Donner gerührt stehen.
Die Szene, die sich ihren Augen bot, war so ungefähr das Gegenteil von dem, was sie instinktiv erwartet hatten. Sie hatten mit magischen Erscheinungen gerechnet, mit unheimlichen
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