Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
nicht mehr da.
An seiner Stelle stand ein gänzlich anderer Mann, der mit gefrorenen blauen Augen fast blicklos in die Runde starrte. Der Mann war blond und hochgewachsen, mit streichholzkurzem Haar und wettergegerbter Haut, die normalerweise sicher tiefbraun war, jetzt aber fahlgrau schimmerte.
Trotz der Veränderungen erkannte Raven den Mann auf der Stelle wieder. Mit absurder Klarheit erinnerte er sich plötzlich daran, was er gedacht hatte, als er sein Bild zum ersten Mal gesehen hatte: Der Taucher, der untertauchte ...
Der Mann war Nick Jerome.
Er machte ein paar Schritte vorwärts, steifbeinig wie ein Automat. Erst jetzt bemerkte Raven, dass er in der Hand eine Plastik-Einkaufstüte mit dem Aufdruck eines Pariser Supermarkts trug. In der Einkaufstüte befand sich, den Umrissen nach zu urteilen, ein Gegenstand, der Form und Größe einer Bowlingkugel haben mochte. Ein schwaches, bernsteingelbes Leuchten ging von der Tüte aus.
Raven stockte der Atem. Was Nick Jerome da in der Einkaufstüte hatte, war zweifellos der Meisterschädel. Ein irres Lachen ballte sich in Ravens Kehle zusammen. Absurd, Absurd. Absurd.
»Nick ...«
Melissas Stimme. Sie kam von sehr weit her, war warm und bitter und ungläubig zugleich. Raven hatte diesen Tonfall schon einmal gehört, im grauen Licht des Morgens. Und er begriff, dass das Verhältnis zwischen Nick Jerome und Melissa McMurray keineswegs das zwischen Agent und Auftraggeberin war. Irgendwann hatten sich die beiden einmal sehr nahe gestanden. Für eine Nacht, für eine Woche, für ein Jahr - wer vermochte das zu sagen? Aber Raven fühlte sich so krank, dass er nicht einmal Eifersucht empfinden konnte.
Die gefrorenen blauen Augen Nick Jeromes begannen aufzutauen. Zuerst war es nur ein unhörbares Knistern, doch dann brach das Eis endgültig, das die Magie des Meisterschädels über sie gelegt hatte. Der Blick aus diesen Augen lebte wieder, richtete sich träumerisch auf das Gesicht Melissas ...
Dann wanderte er weiter, zu der Plastiktüte hinab.
Ein hasserfülltes Krächzen brach unartikuliert über Nick Jeromes verkniffene Lippen. Er hob die Plastiktüte vor die Brust, streifte die dünne Folie von dem Schädel. Achtlos ließ er sie zu Boden fallen. Seine Hände umschlossen, zu einer Halbschale gelegt, den sinister funkelnden Schädel.
»Du ...«, flüsterte er mit einer Stimme, die nichts Menschliches mehr hatte. »Du ...«
In diesem Augenblick schoss das Frettchen Nick Jerome von hinten in den Kopf ...
Seit dem Augenblick, da der Wärter versucht hatte, die Vitrine zu erreichen, um den hünenhaften Deutschen von dem Pariser Schädel wegzuzerren, waren keine fünfzehn Sekunden vergangen. In dieser Zeit waren zwei Menschen gestorben, beide durch die gefühllose Kugel eines Killers, der damit seine Morde von 16 auf 18 erhöht hatte.
Von Grauen geschüttelt, starrte Raven den toten Nick Jerome an, der immer noch aufrecht mitten im Raum stand, den Kristallschädel in beiden Händen, und einfach nicht umfallen wollte.
Sah zu, wie der Killer neben den stehenden Leichnam trat und versuchte, ihm den Kristallschädel aus den Händen zu winden. Doch das schaffte er nicht, weil der Tote den Schädel mit einer Kraft umklammerte, die überirdisch war. Dämonisch. Zombiehaft.
Auf einen solchen Moment hatte Raven nur gewartet. Bis jetzt wäre es Selbstmord gewesen, den Killer zu attackieren, und Raven war kein Selbstmörder. Jetzt aber hatte er eine reelle Chance. Er schnellte sich nach vorne und schlug zu.
Die Hand, die die Pistole umkrampfte, öffnete sich abrupt, als Ravens Schlag sie traf. Mit einem Schmerzensschrei auf den Lippen taumelte der Killer seitwärts weg. Sofort setzte Raven wieder nach.
Er musste sich sehr stark zurückhalten, die Schläge nicht mit voller Wucht durchzuziehen. Auch wenn dieser Mann ein Killer war - Raven wollte ihn nicht TÖTEN. Er gehörte nicht zu denen, die leichtfertig Leben auslöschen. Hätte er dazugehört, wäre er nicht besser gewesen als der Killer, gegen den er kämpfte.
Und außerdem brauchte er den Mann lebendig. Er sollte ihm verraten, wer der Auftraggeber war, der hinter ihm und seinem deutschen Kumpan stand.
Denn eines wusste Raven jetzt genau: Nick Jerome und seine Gefährten von der LAURA gehörten nicht zu jener Bande, die die Kristallschädel aus den Museen stahl. Sie waren nur unter den verderblichen Einfluss des Meisterschädels geraten, den sie aus dem Wrack der ESPERANZA geborgen hatten, und hatten dafür
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