Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
seltsamen Dingen, die er manchmal sagte, mochte das eines Tages seinen Eltern Anlass genug sein, doch nach dem Arzt zu rufen. Und der würde ihn bestimmt in eines dieser Häuser stecken, in das die Menschen kamen, die nicht ganz richtig im Oberstübchen waren, so wie der alte Benny aus der Nachbarschaft. Davor hatte Sören eine Heidenangst.
Er zögerte noch einen Augenblick, dann schwang er die Beine aus dem Bett und stellte sich hin. Seine Füße fanden die Holzpantinen, aber dann überlegte er es sich noch einmal anders und tappte barfuß zur Tür. Er musste leise sein, wenn er sich durch das Haus schlich, so leise wie ein kleines Tier. So leise wie eine Katze.
Nun ja, jedenfalls so leise, wie Katzen es meistens waren. Im Augenblick tobten und schrien sie draußen derartig laut, dass man sie auf Kilometer hören konnte.
Eine Katze. Eine Katze ...
Sein Plan nahm allmählich feste Gestalt an, während er über den kurzen Flur huschte und beinahe lautlos die Treppe hinabglitt, ein Schatten unter Schatten in dem nächtlichen Haus. Erst unten im Erdgeschossflur knarrte eine Bohle unter seinem nackten Fuß. Sofort erstarrte er mitten in der Bewegung und lauschte mit angehaltenem Atem.
Auch diesmal keine Reaktion. Die Eltern schliefen tief und fest nach der harten körperlichen Arbeit ihres Sechzehn-Stunden-Tages.
Er tappte weiter, noch vorsichtiger als zuvor, an der geschlossenen Wohnzimmertür vorbei und in die Küche. Instinktiv wanderte sein Blick zum Schrankaufsatz hinauf, während seine Finger nach dem Knauf der Schublade tasteten. Die Uhr zeigte halb zwei. Seine Eltern standen erst um halb sechs auf. Er hatte reichlich Zeit.
Mit fast unhörbarem Schaben zog er die Lade auf. Ein rascher Griff, und er hielt das in der Hand, wonach er suchte. Ein Mondstrahl drang durch das Küchenfenster und ließ die Klinge des Fleischermessers aufblitzen. Prüfend fuhr er mit der Daumenkuppe über die Schneide.
Scharf. Sehr scharf sogar. Damit konnte eigentlich nicht sehr viel schiefgehen. Das heißt, wenn er das Nachthemd auszog und damit seinen Arm umwickelte wie einer dieser Falkner, von denen er in einem Buch gelesen hatte. Sonst stand ein großes Messer gegen zwanzig kleine, und es gab wohl keinen Zweifel, wie dieser Kampf ausgehen würde ...
Und jetzt hinaus durchs Küchenfenster. Nicht durch die Haustür - die war nicht geölt.
Entschlossen öffnete Sören das Fenster und schwang sich übers Fensterbrett. Ein grimmiges Lächeln spielte um seine Lippen, ein Lächeln, das viel zu erwachsen war für einen Jungen seines Alters.
Ein paar Minuten später brach draußen am Feldrain, ein gutes Stück vom Haus entfernt, das heisere Schreien eines der liebeskranken Kater ab. Die anderen sangen weiter.
Kein Mensch bemerkte einen Unterschied. Es gab sehr viele liebeskranke Kater in der Provinz Skåne.
Unter dem Kadaver der grau melierten Katze breitete sich langsam eine große, warme Blutlache aus.
Nackt und am ganzen Körper schwitzend stand Sören da, über das im Tode erstarrte Tier gebeugt, dessen gelbliche Fänge in dem weit aufgerissenen Maul im Mondlicht schimmerten.
Die Arme und Beine des Jungen zitterten und bebten, und sein Atem ging schwer in kurzen, schluchzenden Stößen. Ihm war so übel, dass er sich hätte übergeben können, und das lag nicht nur an den hohen Adrenalinausschüttungen, mit denen sein Organismus fertig werden musste, sondern vor allem an dem Verlauf, den sein grausiges kleines Ritual genommen hatte.
Auf dem Wege vom Haus herüber hatte er sich vorgestellt, wie er sich an die Katze heranpirschen, sie mit einem einzigen glatten Stich erledigen und ihr anschließend mit der Messerklinge die Halsschlagader öffnen würde, um das nötige Blut für die Beschwörung zu gewinnen. Aber so hatten sich die Dinge ganz und gar nicht abgespielt. Eigentlich hatte nur das Anpirschen geklappt, denn der Kater hatte in seiner Liebesseligkeit gar nicht auf den Jungen geachtet. Dann aber war aus dem geplanten sauberen Opfer eine scheußliche Schlächterei geworden. Der Kater hatte sich einfach zu sehr gewehrt.
Mit stumpfen Augen starrte Sören auf seine Hände. Die Linke hielt immer noch das blutverschmierte Messer umklammert und war so um das Heft zusammengekrampft, dass sie an eine Klaue erinnerte. Von der Rechten hing in langen Fetzen das Nachthemd herunter, mit dem er sie zum Schutz umwickelt hatte.
Wie betäubt dachte Sören daran, dass er seinen Eltern das Verschwinden des Nachthemdes würde erklären
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