Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
selber kommen. Sie sind eingeschrieben in dir wie in einem Buch.
»Aber ...« Verwirrt hielt Sören inne. Er begriff nicht, was sein Vater damit sagen wollte. »Ich verstehe die Zusammenhänge nicht.«
Ich will sie dir erklären. Hör zu. Sein Vater legte eine Pause ein, wie um seine Gedanken zu sammeln, dann fuhr er bedächtig fort: Auf eine Weise bist du jener Meistermagier von Maronar, von dem du träumst. Als die Thul-Saduum-Dämonen sein Ich aus seinem Körper stahlen und es in den Schädel aus Kristall einsperrten, barg ich den Körper - was nicht allzu schwierig war, da die Thul Saduum ihm keine große Beachtung mehr schenkten, nachdem er einmal ohne Seele war - und bewahrte ihn an einem sicheren Ort auf. Als die rechte Zeit gekommen war, formte ich aus seiner vitalen Energie einen Lebenskeim, hauchte ihm astrale Energien ein und pflanzte ihn in den Schoß der Frau, die deine Mutter ist. Denn du bist der Eine, der aus dem Lebenskeim entstand - die Reinkarnation des Meistermagiers von Maronar.
»Und deshalb ...?«
Und deshalb träumst du - oder richtiger: erinnerst dich an dein vergangenes Leben. Du könntest nur vergessen und damit aufhören zu träumen, wenn die vitale Energie aus deinem Leib entweichen würde. Doch das wäre dein Tod.
Ein Schluchzen schnürte Sören die Kehle zusammen. In seinem Kopf wirbelten wie rasend die Gedanken. »Wenn du das alles vorher gewusst hast, warum hast du mich dann trotzdem wieder auferstehen lassen? Wie hast du mir das antun können, Vater?«
Erinnerst du dich, was der Fürst der Thul Saduum über das Schicksal der vier Kristallschädel sagte?
»Wir werden euch über die Welt verstreuen, in einer Zeit, da Maronar seit Milliarden von Jahren nur noch Legende ist ...«, flüsterte Sören rau. Langsam begann er die Zusammenhänge zu begreifen. Er wusste auch, was sein Vater als Nächstes sagen würde. Eine große Ruhe überkam ihn.
Ich spüre, du ahnst die Wahrheit schon. Ja, diese Zeit ist jetzt. Der Meisterschädel und die drei Gehilfenschädel sind hier, an vier verschiedenen Punkten dieses Erdballs. Wenn du sie findest und zusammenbringst, werden deine Träume enden. Und vielleicht - vielleicht! - wird Maronar dann wieder sein.
»Aber wie soll ich das machen? Auf dieser Welt, in dieser Zeit bin ich doch nur ein Kind!«
Die Stimme des Nicht-Gesichts drunten im Abgrund wurde womöglich noch einschmeichelnder. Schwang da nicht sogar so etwas wie Mitleid in ihr mit? Natürlich wird es lange dauern - fast drei Jahrzehnte deiner Lebensspanne in diesem Körper. Das kann ich dir nicht ersparen, denn auf der Erde habe ich nicht dieselbe Macht wie einstmals auf Maronar. Wir müssen Umwege gehen, du und ich - das Schicksal, die Wahrscheinlichkeit betrügen. Aber dann ... Dann ...
»Ich glaube dir und füge mich. Du bist einer jener in der Tiefe, denen mein erstes Ich, der Meistermagier von Maronar, vor Jahrmilliarden opferte, nicht wahr?«
Ein Lachen aus unsagbaren Tiefen, das zu einem wahren Orkan anschwoll. Die Worte, die sein astraler Vater sprach, als das Gelächter endlich verebbt war, sollte der kleine Sören nie vergessen.
Einer von ihnen? ICH BIN IHR HERR.
»Also gut«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch. »Dann fangen wir eben noch mal von vorne an.«
»Zum dritten Mal?«, erkundigte sich Raven ungläubig. Er hockte verkrümmt auf einem überaus unbequemen Bürostuhl. Sein Hintern tat ihm weh, weil die Härte des Holzes von keinem Kissen gemildert wurde, und seine Augen brannten.
»Zum dritten Mal«, bestätigte der Mann hinter dem Schreibtisch ungerührt. »Und wenn es sein muss, auch zum vierten oder fünften Mal.«
Raven blickte ihn nachdenklich an. Kriminalinspektor Rogier le Pierrot von der Pariser Mordkommission war ein zerknitterter Mann mit einem Gesicht, das perfekt zu französischen Café-au-lait-Tassen passte, und Bügelfalten, die verlebter waren als alle, die Raven je zuvor gesehen hatte. Das Einzige, was bei ihm gut in Form zu sein schien, waren sein Verstand und seine Ausdauer - mehr als bei den weitaus meisten Leuten also.
Anfangs hatte Raven ihn unterschätzt. Jetzt tat er das nicht mehr. Möglicherweise war Ravens Sinneswandel allerdings zu spät gekommen. Aber das würde sich im weiteren Verlauf der Vernehmung noch herausstellen.
Le Pierrot legte die Fingerspitzen zu einem Dach zusammen und stützte sein Kinn darauf. Einen Augenblick lang hatte Raven das Gefühl, in einen Spiegel zu sehen, der ihn selber zeigte, um zwanzig Jahre
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