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Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Titel: Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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gealtert. Die Geste gehörte auch zu seinem Repertoire.
    Er hob den Blick und schaute le Pierrot direkt in die wasserblauen Augen. Er hatte Schwierigkeiten, auch nur die alleroberflächlichsten Gedanken und Empfindungen seines Gegenübers daraus zu lesen. Wahrscheinlich waren sie zu verschwommen, um dergleichen zeigen zu können.
    »Ich finde, wir sollten uns zunächst noch einmal mit den Ereignissen befassen, die heute Morgen der Tat vorausgingen«, sagte der Inspektor ohne jede besondere Betonung. Er wirkte denkbar desinteressiert. Raven machte sich auf einen Tiefschlag gefasst. »Die Zeugen - vor allem Museumswärter, denen Sie und Miss McMurray schon vom Vortag bekannt waren - berichten übereinstimmend, dass Sie sich beide offenbar in großer Eile befanden, als Sie das Centre Georges Pompidou betraten.« Er klappte das Fingerdach auseinander und tippte mit der Zeigefingerspitze der rechten Hand zwei Mal kurz auf einen Stoß dicht beschriebenen Papiers vor ihm auf der Schreibunterlage seines Tisches - die gesammelten Vernehmungsprotokolle, schweißtreibende Tagesarbeit eines acht Mann starken Untersuchungsteams. Dann restaurierte er das Dach wieder und legte erneut sein Kinn darauf. »Wie es hier heißt, drängten Sie sich rücksichtslos durch die Menge und rempelten dabei zahlreiche Personen an. Wieso diese Eile?«
    Raven seufzte ergeben. »Das habe ich Ihnen doch schon zwei Mal erzählt«, sagte er. »Ich hatte eine vage Vorahnung, dass an diesem Vormittag ein Versuch unternommen werden würde, den Kristallschädel aus der Vitrine im Ausstellungsraum zu stehlen. Ich gebe sehr viel auf solche Vorahnungen. Sie nicht?«
    Le Pierrot verzichtete darauf, Ravens Frage zu beantworten. Nicht, dass Raven eine Antwort erwartet hätte. Er hatte nur das Bedürfnis verspürt, ein bisschen patzig zu werden, und zwar so, dass der Inspektor es ihm schwerlich ankreiden konnte. Raven wusste selbst, dass das eine ziemlich klägliche Art war, gegen seine ständig zunehmende Hilflosigkeit anzukämpfen.
    »Wer hatte diese Vorahnung - Sie oder Miss McMurray?«
    »Ich.«
    »Wann?«
    »Während des Frühstücks.«
    Der Inspektor hob sanft eine Augenbraue. »Während des Frühstücks«, wiederholte er, wobei er mit den kleinen Fingern klimperte. »Rekonstruieren wir das doch einmal genauer. Sie saßen also im Frühstücksraum Ihres Hotels ...«
    Am liebsten hätte Raven das einfach so stehen gelassen, ohne Zustimmung oder Verneinung, aber er wusste, dass le Pierrot ein Schweigen als Zustimmung werten würde. Und solche Tatsachen ließen sich nachprüfen. Wenn er hier nicht bei der Wahrheit blieb, würde er sich eine Menge Ärger einhandeln. Ärger aber hatte er längst genug am Hals.
    »Nein«, unterbrach er deshalb eilig den Inspektor. »Ich hatte mir das Frühstück aufs Zimmer kommen lassen.«
    Die Augenbraue ging schon wieder hoch. »Auf Ihr Zimmer, so. Dann riefen Sie also auch von Ihrem Zimmer aus Miss McMurray an, nachdem Sie diese ... vage Vorahnung entwickelt hatten?«
    Raven biss sich auf die Lippen. Die dritte Vernehmungsrunde schien sich noch unerquicklicher zu gestalten als die beiden vorangegangenen. »Nein. Sie - Sie war schon da.«
    »Sie ist demnach von ihrem Hotel herübergekommen, um mit Ihnen gemeinsam zu frühstücken?«
    Raven wusste plötzlich, wie sich ein Schachspieler fühlen muss, der feststellt, dass ihn sein nächster Zug unweigerlich ins Matt führen wird. Der einzige, aber gravierende Unterschied bestand darin, dass ihm sein Gegenspieler nicht erlauben würde, aufzugeben und sich vom Brett zu erheben, ohne die verhängnisvollen letzten Züge auch wirklich ausführen zu müssen. Le Pierrot konnte allein Kraft seines Amtes darauf bestehen, dass Raven bis zum bitteren Ende zog.
    »Sie war schon da«, sagte Raven fast unhörbar leise.
    Le Pierrot war so anständig, ihn nicht dadurch zu demütigen, dass er ihn die kaum verständlichen Worte wiederholen ließ. Gleich darauf überraschte er Raven erneut, indem er gleichsam entschuldigend sagte: »Ich frage Sie das jetzt nur, weil es heute Morgen zwei Tote gegeben hat und jedes Detail, so persönlich es auch zunächst wirken mag, wichtig werden kann, um die Mörder zu fassen. Also: Hat Miss McMurray die Nacht bei Ihnen verbracht?«
    Raven ließ seinen Blick zum Fenster schweifen und schaute hinaus. Draußen senkte sich wieder der Abend über Paris. Mit kleinen Unterbrechungen saß er seit acht Stunden hier auf diesem Stuhl. Seine Nacht mit Melissa lag einige

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