Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
Tempelberg zum rituellen Tanz hinaus über den Abgrund trug, in den die entseelten Sklaven geworfen wurden.
Noch mehr als das Fehlen des vertrauten Drucks auf den Schultern schmerzte jedoch die Leere in seinem Geist, das Fehlen der zarten Verbindung mit den Gedanken und Gefühlen der Chimoi. Der Verlust der Chimoi war die schlimmste Folter gewesen, die er über sich hatte ergehen lassen müssen, seit ihn die Dämonen in der Grube von Gunth überwältigten.
Fliegen ...
Der Blick des Meistermagiers fiel auf die Sterne hoch droben über seinem kahl geschorenen Schädel. Wie kleine Lichtvampire drängten sie sich aneinander, ein in der eisigen Kälte des Weltraums erstarrter Schwarm. Täuschte er sich, oder bewegten sie sich ein wenig? Wenn er nur lange genug nach oben starrte, würde er dann das Verstreichen der Zeit messen können?
Wieso war er eigentlich nicht früher auf diesen Gedanken gekommen?
Heißes Feuer wallte in dem Meistermagier auf und rötete seine bleichen Wangen. Auf einmal begriff er, dass etwas sich verändert haben musste. Sein nachtschwarzes Gefängnis verurteilte ihn nicht länger zu völliger Reglosigkeit und Gedankenstarre!
Und die Veränderungen gingen immer weiter!
Ein winziger Lichtpunkt am Rande des Sternenfeldes begann sich zu bewegen. Unendlich langsam zuerst, dann immer rascher, floss er an einer unsichtbaren Krümmung herab. Andere Lichtpunkte taten es ihm gleich, erwachten zu plötzlichem Leben, lösten sich aus der unnatürlichen Sternenkonzentration dort in der Höhe. Rings um den Meistermagier tropfte es Sterne. Aus der kalten, abweisenden, einsperrenden Schwärze um ihn herum wurde die samtige Schwärze der Nächte von Maronar.
Gierig folgte der Meistermagier den herabtropfenden Sternen mit seinem Blick. Ihre Bahnen woben ein verwirrendes Muster in die Nacht, bis sie zum Stillstand kamen und die vertrauten Sternbilder formten. Tief sog er die warme, von schweren Gerüchen erfüllte Luft ein und tat einen Schritt nach vorne, hinein in die sternenerfüllte Nacht.
Und durch sie hindurch.
Im nächsten Augenblick blieb er stehen, als sei er vor eine Mauer geprallt.
Direkt vor seinen Augen pendelte der schnabelbewehrte Kopf eines Thul Saduum.
Sie hatten ihn wieder getäuscht!
Meister der Illusion, machten sie sich eine dämonische Freude daraus, ihn mit tausend Trugbildern, mit tausend falschen Gefühlen zu narren, Hoffnung in ihm zu wecken und sie sofort wieder zu zerstören, damit er in noch tiefere Abgründe der Angst und des Entsetzens stürzte.
Das warme, angenehme Gefühl, in eine milde Sommernacht zu treten, war nicht in ihm selbst entstanden, sondern ihm von den Thul Saduum eingegeben worden, während sie seinen Kerker entmaterialisierten. Hätten sie ihn denn nicht einfach so aus seinem Gefängnis herausholen können? Er fühlte sich bis ins Innerste gedemütigt. Wenn sie ihn zerbrechen wollten, dann waren sie auf dem richtigen Weg.
Als Dämonen hatten sie alle Zeit der Welt, ihn, den langlebigen Sterblichen, bis zur Selbstaufgabe zu foltern. Eine Ewigkeit körperlicher und seelischer Tortur würde auch er nicht unbeschadet durchstehen. Eines Tages musste er vor ihnen kriechen, musste ihr williger Sklave werden - wenn sie ihm nur versprachen, ihm dafür schließlich den Tod zu gewähren.
Aber noch war es nicht soweit. Noch hatte er einen Rest von Selbstachtung und Kraft, den sie ihm erst würden nehmen müssen. Er hatte keineswegs die Absicht, ihnen das allzu leicht zu machen!
Langsam hob er den Kopf und schaute sich um, mit so festem Blick, wie er es eben zuwege brachte.
Allerdings hätte dieser eine Blick beinahe gereicht, den neu in ihm aufgekeimten trotzigen Stolz auf der Stelle wieder zu brechen. Er befand sich nämlich an einem dämonischen Ort der Macht - in einer Schattenwerkstatt der Thul Saduum!
Nebelhafte, von menschlichen Augen nicht recht zu erfassende Formen wallten und krümmten sich an den Grenzen seines Gesichtsfeldes. Wände? Einrichtungsgegenstände? Werkzeuge? Wie mochte diese Werkstatt des Bösen für das einzelne, rot glosende Zyklopenauge eines Thul Saduum erscheinen?
Er wusste es nicht, und er wollte es auch nicht wissen. Alles, was mit dieser grässlichen Dämonenrasse zusammenhing, die er selbst in einem augenscheinlichen Anfall von Größenwahn nach Maronar geholt hatte, flößte ihm einen namenlosen Ekel ein. Selbst für einen, der mit denen in der Tiefe umgegangen war, gab es noch Dinge, die unrein waren ...
Vor den Wänden ihres
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