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Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Titel: Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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müssen. Aber seltsamerweise erfüllte ihn das nicht mit Sorge oder Angst. Alles, was über den Augenblick hinausging, war ihm jetzt gleichgültig. Aus einer ihm unbekannten Quelle tief in seinem Inneren kehrte seine alte Entschlossenheit, die für ein paar Sekunden von ihm gewichen war, zurück. Nichts war jetzt wichtig außer dem Ritual, das er mit der Opferung der Katze begonnen hatte und das er nun zu Ende führen musste. Es gab kein Zurück.
    Schnell beugte er sich nieder und rammte das Messer am oberen Ende der Blutlache in den Boden, dort, wo der fast unversehrte Kopf der Katze ruhte. Dann wickelte er die Nachthemdfetzen von der rechten Hand und warf sie achtlos in die Büsche. Hinter dieser Mauer aus Dornen würde sie ohnehin niemand finden.
    Mit flinken Fingerspitzen strich er schließlich durch das dampfende Blut der Katze und begann, komplizierte Muster auf seinen nackten Leib zu malen - Muster, die keinerlei Ähnlichkeit mit Ritualbemalungen oder magischen Stammeszeichen hatten, wie man sie auf der Erde kannte. Als er fertig war, war sein ganzer Körper von einem dichten Netz aus blutroten Linien überzogen, die sich hier und da zu geisterhaften Gestalten und Gesichtern zu formen schienen.
    Während er sich schmückte, sprach Sören die jahrmilliardenalten Formeln, die ihm sein wirklicher Vater beigebracht hatte, als er ihm in seinen Visionen zwischen Wachzustand und Schlaf erschienen war.
    Heute unternahm Sören zum ersten Mal den Versuch, von sich aus mit seinem Vater in Verbindung zu treten. Nagende Zweifel stahlen sich in sein Herz. Würde alles so kommen, wie er es sich erhoffte, oder war die misslungene Opferung ein böses Omen für den weiteren Verlauf der Zeremonie?
    In einer Aufwallung von Zorn biss er die Zähne zusammen und schüttelte die Zweifel von sich ab wie ein nasser Hund das Wasser. Sein Vater hatte ihm gesagt, dass er erscheinen würde, wenn er dieses Ritual ausführte. Die Zweifel waren also überflüssig. Und nicht nur das - sie waren eine Lästerung seines Vaters!
    Sören erschauerte und beeilte sich, die vorgeschriebenen Formeln zu Ende zu sprechen. Bei den letzten Sätzen hob sich seine Stimme zu einem melodiösen Singsang, und sein Körper begann sich wie ein Rohr im Wind hin und her zu wiegen.
    Als der letzte Ton der Beschwörung verklungen war, befand sich der Junge in Trance. Er kauerte sich auf die Hinterbacken, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte mit seltsam starren Augen auf die rote Fläche vor sich. »Komm«, flüsterte er dann tonlos. »Komm, dein Opfer ist bereit!«
    Und die rote Fläche fing an, sich zu verändern. Unendlich langsam wölbte sie sich nach innen, wurde zu einem konkaven Spiegel. Der Kadaver der Katze begann die Wölbung entlang zu rutschen, auf eine Öffnung zu, die sich im Mittelpunkt des roten Spiegels auftat.
    Die Öffnung weitete sich, entwickelte sich zu einem klaffenden Abgrund. Der Kadaver der Katze glitt über den Rand dieses Abgrundes und stürzte wie in Zeitlupe in ihn hinein, ein grauenhaft schlaffes, blutleeres Bündel aus Fleisch, Knochen und Fell.
    Sören beugte sich wie im Traum vor, um den Fall der Katze zu verfolgen ...
    ... und sah in das Antlitz seines Vaters.
    Aus der Tiefe des Abgrunds lächelte es herauf, unendlich fern und doch zugleich so nah.
    Sören wusste nicht, woher er den Eindruck gewann, dass dieses Gesicht lächelte, denn es hatte keinen Mund, keine Wangen und keine Augen. Er spürte auch nicht, wie seine Beinmuskeln arbeiteten, um das prekäre Gleichgewicht seines Körpers wieder herzustellen, und dachte auch nicht darüber nach, wohin die Katze verschwunden war. Für ihn gab es nur noch dieses Gesicht, das Gesicht seines Vaters, das mehr war und weniger als ein Gesicht.
    Mein Sohn?
    Die Stimme war allgegenwärtig, ertönte tief in Sörens Kopf. Sie klang sanft und einschmeichelnd und freundlich, aber auch darauf achtete Sören nicht. Für ihn war es einfach die Stimme seines Vaters, und das war genug.
    »Ich danke dir, dass du gekommen bist«, wisperte er. »War mein Opfer recht?«
    Es war sehr recht. Und ich bin stolz auf dich und freue mich, dass du mich von selber gerufen hast. Was kann ich für dich tun?
    Sörens Lippen bewegten sich wie von selbst. »Ich träume jede Nacht entsetzliche Dinge. Nimm diese Träume von mir, Vater.«
    Das vermag ich nicht, mein Sohn.
    Mit einem Mal war Sörens Stimme wie ein Aufschrei. »Aber warum nicht, Vater? Ich kann diese Träume nicht mehr ertragen!«
    Weil sie aus dir

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