Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
hatte, mit einem Mal zersprungen. Von der ungeheuren Anspannung befreit, keuchte er auf und machte einen taumelnden Schritt vorwärts. Er fühlte sich hundeelend. Sein Herz hämmerte wie eine überlastete Maschine, sein Atem ging in kurzen, jagenden Stößen, und in seinen Gedanken hatte sich das Grauen eingenistet.
Aber seinem Freund und Partner, Roscoe Smith, ging es anscheinend noch viel schlechter. Er schaffte es nicht einmal, auf den Beinen zu bleiben, sondern sank einfach in die Knie, wobei er leise vor sich hinwinselte.
Als die erste Benommenheit von ihm wich, wurde das leise Winseln erst zu einem Jammern und Stöhnen und ging dann in gellendes Geschrei über.
Schließlich krümmte sich Roscoe gequält zusammen und erbrach sich würgend auf den Teppich. Seine Hände tasteten ziellos über Kehle, Brust, Bauch und Unterleib, als wisse er nicht, wo der Schmerz am größten sei, wo er am dringendsten der Linderung bedürfe.
Das hatte Roscoe diesem Raven zu verdanken, dem Engländer. Der hatte ihn mit einer blitzschnellen Kombination von Handkantenschlägen krankenhausreif geprügelt, als er versuchte, dem toten, aber noch aufrecht stehenden Mann, der kurz zuvor aus dem Nichts im Ausstellungsraum erschienen war, die Plastiktüte mit dem Meisterschädel aus den erstarrten Fingern zu reißen. Eigentlich hätte Roscoe ja unmittelbar nach Ravens Angriff zusammenbrechen müssen, aber die beiden nun vereinten Kristallschädel hatten das nicht zugelassen.
Sie hatten, wie schon zuvor bei Harald Münzschläger, auch die mentale Kontrolle über Roscoe Smith an sich gerissen und ihn zugleich ebenfalls unter den Schutz des Unsichtbarkeitsfeldes - des »Dunklen Schirms« von Maronar - gestellt, sodass sie aus dem Centre fliehen konnten. Raven und seine Begleiterin waren allein bei den beiden Leichen zurückgeblieben, ohne die Verfolgung aufnehmen zu können.
Die Flucht ...
Harald Münzschläger überliefen eisige Schauer, wenn er daran dachte. Die beiden Kristallschädel waren vor ihnen durch die Luft geschwebt, von einem dünnen, bernsteingelben Band aus scheinbar purer Energie verbunden. Wie Zombies waren er und Roscoe ihnen hinterdrein getaumelt, unfähig, sich gegen die übernatürliche Beeinflussung zu wehren. Und übernatürlich war das, was sich da abspielte, gewesen, daran zweifelte Harald Münzschläger keinen Augenblick. Der Chef hatte zwar am Telefon von Psi gesprochen, aber entweder wusste er es selbst nicht besser, oder aber er wollte sie ganz einfach täuschen. Psi war das nie und nimmer.
Die Macht der Kristallkugel beruhte vielmehr auf purer Magie!
Und diese entsetzliche Erkenntnis war nur der erste Schrecken ihres an Schrecken reichen Leidensweges von Paris nach Godsby gewesen.
Schon auf dem Wege zum Flughafen Charles de Gaulle, als sie, nun wieder sichtbar, in einem Abteil der Schnellbahn saßen, waren die Bilder gekommen. Über die okkulte Verbindung, die sie an die Kristallschädel im Inneren des Dunklen Schirmes fesselte, hatten die beiden Gangster miterleben müssen, wie sich ihre Peiniger in einem wilden Fest der Fantasie ihre lang vergangene, aber nie vergessene Heimat in ekstatischen Bildern ins Gedächtnis riefen, sie in alter Pracht in ihrem Geist neu auferstehen ließen.
Das fremdartig schöne, wunderbare Maronar.
Das blutige, verderbte Maronar.
Das Maronar der fackelnden Sonne und der Leichter-als-Luft.
Das Maronar der Menschenopfer und des Abgrunds.
Und - das Maronar, das jenen in der Tiefe huldigte.
Der Strom der menschliches Begreifen übersteigenden Visionen war während der ganzen Reise nur ein einziges Mal kurz abgeebbt: an der Passkontrolle auf dem Flughafen Charles de Gaulle.
Harald Münzschläger sah noch jetzt die schwer bewaffneten Polizisten vor sich, die an der Sperre standen. Der Fußmarsch zur Schnellbahn, die Fahrt hinaus zum Flughafen Charles de Gaulle und der Kauf der billigen Reisetaschen im Flughafenshop, in denen sich jetzt die Schädel verbargen, hatten zusammen mehr als eineinhalb Stunden gedauert - Zeit genug also für diesen Raven, ihn und Roscoe der Polizei detailliert zu beschreiben und die Einrichtung von Kontrollen an den wichtigsten Verkehrsknotenpunkten zu veranlassen.
Wobei es nicht einmal nötig gewesen wäre, dass Raven sie beschrieb. Es hätte schon gereicht, wenn er der Polizei nur mitteilte, dass sie mit den beiden Männern identisch waren, die am Vortage Zeugen des Amoklaufes im Centre geworden waren. Seither kannte die Polizei ja ihre Namen:
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