Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
er die beiden Männer an seiner Seite durch einen aufdringlichen Blick oder einen zu tiefen Atemzug aus ihrer seltsamen Trance schreckte. Aber natürlich war das hanebüchener Unsinn - sie waren so in sich versunken, dass nichts, was in der Außenwelt geschah, bis zu ihnen durchdringen konnte.
Außer, er versuchte, an ihre Taschen zu kommen - und daran dachte Ole nicht einmal im Traum!
Da er nicht mehr der Jüngste war, hatte Ole erhebliche Schwierigkeiten, mit den Männern Schritt zu halten. Er war heilfroh, als sie endlich die drei Stufen erreichten, die zur Tür führten, und er den Klingelknopf drücken konnte. Drinnen im Haus läutete gedämpft die Glocke. Schritte ertönten im Flur hinter der Tür.
In den vergangenen sieben Jahren hatte es sich zu einer Art Brauch entwickelt, dass er Besucher bis zur Pforte des Herrenhauses geleitete, wo sie vom Hausdiener in Empfang genommen wurden. Es wäre für Ole Jensen undenkbar gewesen, auch nur dieses eine Mal von diesem Ritual abzuweichen, aber er zählte die Sekunden, bis sich die Tür öffnete und seine Passagiere über die Schwelle traten. Er wollte nichts anderes, als in seine Kabine an Bord der Motorjacht zurückzukehren, sich in die Koje zu hauen und sich gemeinsam mit Per einen guten Linie-Aquavit zu genehmigen. Er wusste, dass in der Kombüse noch eine randvolle Flasche davon stand.
Nur noch einen Augenblick, dachte er tief in seinem Inneren, dann bin ich sie endlich los. Es klang wie ein Stoßgebet.
Mit einem leisen Knarren schwang die schwere Tür auf ihren hölzernen Angeln nach innen. Gegen das Licht der Flurlampe wurde die umrisshafte Gestalt eines Mannes sichtbar. Sein Gesicht lag zwar im Schatten, aber aus dem Körperbau und aus der Art, wie er »God afton«! sagte, erkannte Ole Jensen, dass es sich um Rolf, den Hausdiener, handelte.
Bevor er auch nur in der Lage war, Rolfs Gruß zu erwidern, hatten sich die beiden Männer schon an dem Hausdiener vorbeigedrängt. Einer von ihnen blieb stehen, schob Rolf beiseite und schlug Ole die Tür vor der Nase zu.
Der Effekt war verblüffend.
Als die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel, war es Ole, als sei eine unsichtbare Verbindung durchtrennt worden, von deren Existenz er vorher nichts geahnt hatte. Mit einem Mal wich der Druck von seiner Brust, sein Herz begann, ruhiger zu schlagen, und auch die Angst verschwand wie weggeblasen. Zum ersten Mal seit Stunden konnte er wieder frei atmen.
Verblüfft schüttelte er den Kopf. Der plötzliche Umschwung ging über sein Fassungsvermögen. Hatte er denn das alles nur geträumt? Aber da waren doch diese unheimlichen Ereignisse gewesen ...
Was für unheimliche Ereignisse?, fragte er sich gleich darauf. Eigentlich hatte sich doch weiter nichts ereignet, als dass zwei für die Jahreszeit zu leicht gekleidete Männer, die er im Auftrag seines Chefs von Stockholm nach Godbsy übersetzen sollte, sich grundlos übermäßig rau verhalten hatten - sogar brutal, wenn man bedachte, wie sie Per aufs Deck gestoßen hatten.
Natürlich fühlte man sich in Gesellschaft solcher Leute unbehaglich, aber das war ganz normal, die Furcht von körperlicher Gewalt, die jeder empfindet, der nichts ahnend damit konfrontiert wird ...
Unheimliches war jedenfalls gar nichts passiert. Er hatte sich in Hirngespinste hineingesteigert, in Altweiberfantasien. In Wirklichkeit war nichts gewesen. Nichts.
Immer noch restlos verwirrt, drehte er sich um und machte sich sehr langsam auf den Rückweg zur Anlegestelle.
Als er aus dem Schatten des Hauses trat, blickte er auf und spähte den flachen Hang zu seinem Schiff hinunter, wo Per mit seinem Brummschädel und die Flasche Linie-Aquavit schon auf ihn warteten. Trotz seines Alters waren seine Augen noch vorzüglich, und es bereitete ihm keine Mühe, im bleichen Licht des Vollmonds den Namen zu lesen, der in großen schwarzen Buchstaben auf dem weißen Bug der Jacht prangte.
MARONAR.
Er hatte sich schon oft gefragt, was dieser Name wohl bedeuten mochte. Ein schwedisches Wort war es jedenfalls nicht, und es entstammte auch keiner der anderen Sprachen, von denen er auf seinen Fahrten hier und da Brocken aufgeschnappt hatte ...
In diesem Augenblick begann die Schäre unter ihm zu erbeben.
In dem Moment, als die Tür hinter ihnen zufiel, löste sich der magische Bann von Roscoe Smith und Harald Münzschläger.
Harald Münzschläger war es, als sei eine eng geschnürte Fessel, die sich bisher unbarmherzig in seine Seele eingeschnitten
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