Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
mitbekommen, was dieser entsetzlich beharrliche Mensch da vor ihm nun schon wieder wissen wollte. Er schrak hoch, blinzelte und schaute Inspektor le Pierrot ein wenig hilflos an. »Entschuldigen Sie«, sagte er dumpf, »aber ich habe wohl nicht recht zugehört ...«
Der Inspektor nickte und lächelte verständnisvoll. »Sie sind erschöpft, nicht wahr? Soll ich noch einen Kaffee kommen lassen?«
Kein Wort davon, das Verhör für heute zu unterbrechen. Trotzdem empfand Raven so etwas wie Dankbarkeit gegenüber dem Polizisten. Er ließ den Kopf nach vorne sacken und nickte ohne große Anteilnahme.
Le Pierrot griff zum Hörer des altertümlichen Telefons, das seinen Schreibtisch zierte. Ohne hinzuschauen, wählte er mit der Hand, die den Hörer hielt, eine mehrstellige Nummer, dann führte er nachlässig die Sprechmuschel an den Mund. »Simone? Ah, oui. Encore de café, ah? Oui, à trente-sept. Le bain de siège, bien sǔr.« Er lachte bellend. »'revoir.« Als er den Hörer auf den Apparat zurückknallte, musste er immer noch grinsen.
Für solche Feinheiten war Ravens Französisch nun wirklich zu schlecht. »Ein Scherz auf meine Kosten?«, erkundigte er sich so bissig, wie er es eben noch vermochte.
Le Pierrot lachte ihn an. »Sozusagen«, meinte er mit beinahe kindlichem Vergnügen. »Wir nennen so ein Verhör ›le bain de siège - das Sitzbad‹. Manchmal auch ›le bain de siège chaud‹ - das heißt ›heißes Sitzbad‹. Weil man dabei so ins Schwitzen kommt.«
Zu seiner eigenen Verwunderung musste jetzt sogar Raven lachen, ungeachtet der Tatsache, dass er selbst es war, der hier ins Schwitzen gebracht wurde.
»Um meine Frage von vorhin zu wiederholen ...«, sagte le Pierrot übergangslos. »Hat nun Münzschläger den Kristallschädel aus der Vitrine genommen oder nicht?«
Raven fühlte sich mit einem Mal wie auf dem Fechtboden. Fintieren, dann ein blitzschneller Überrumpelungsangriff, um die vernachlässigte Deckung zu durchbrechen ...
»Ich habe es nicht mit eigenen Augen gesehen, aber ich nehme es an«, sagte er gereizt. »Eigentlich kann es nur Münzschläger gewesen sein, denn außer ihm ist keiner nahe genug an die Vitrine herangekommen. Und bis auf Münzschläger und Smith hat niemand bis zu dem Zeitpunkt, als die Polizei kam, den Raum verlassen.«
Le Pierrot wiegte bedächtig den Kopf hin und her, als könne er das Raven nicht so recht glauben. »Belassen wir es erst einmal dabei und halten uns weiter an die Chronologie«, meinte er gleichsam beschwichtigend. »Sie sagen, niemand hätte den Raum verlassen. Aber es ist noch eine weitere Person hereingekommen.«
»Nick Jerome, ja. Er kam wenige Augenblicke nach dem Schuss durch die Tür. Er wirkte seltsam desorientiert - fast wie in Trance.«
Was auch kein Wunder war, denn Nick Jerome war nicht einfach durch die Tür getreten. In Wirklichkeit war er mitten im Ausstellungsraum, ganz in der Nähe der Vitrine mit dem Pariser Kristallschädel, aus dem Nichts materialisiert. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich offensichtlich völlig im hypnotischen Bann des geheimnisvollen Meisterschädels befunden, den er im Auftrage Melissa McMurrays in der Karibik aus dem Wrack der spanischen Galeone ESPERANZA geborgen hatte, nur um sich sofort darauf mit ihm aus dem Staub zu machen.
Dieses plötzliche Verschwinden war einer der Gründe gewesen, warum Melissa Raven auf den Fall der Kristallschädel angesetzt hatte. Als Nick Jerome nun so plötzlich im Centre Georges Pompidou auftauchte, hatte er den Meisterschädel in einer ganz gewöhnlichen Plastik-Einkaufstüte bei sich geführt. Aber das alles waren Einzelheiten, die Raven dem Inspektor nicht auf die Nase zu binden gedachte.
»Und dann?«
»Jerome stolperte sozusagen in den Raum hinein, an Roscoe Smith vorbei. Der schoss ein zweites Mal und traf Jerome von hinten in den Kopf.«
»Schon wieder eine Panikreaktion, was?« Le Pierrot lächelte humorlos, und Raven kroch ein kalter Schauer den Rücken hinauf. Der Inspektor hob seinen wässrigen Blick und schaute Raven geradewegs in die Augen. Unwillkürlich zogen sich Ravens Pupillen zusammen. Das Lächeln des Inspektors gewann an Wärme.
»Die nächste echte Frage«, sagte er mit hörbarem Interesse in der Stimme. »Wenn sich die Dinge so abgespielt haben, wie Sie sie mir schildern - wie kommt es dann, dass die Leiche Nick Jeromes mit dem Gesicht zur Tür gelegen hat?« Wieder tippte er zwei Mal kurz mit dem rechten Zeigefinger auf ein Blatt Papier vor
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