Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
die Jacht an den Kai lenkte, warf Per, der Maat und Maschinist, ein Seil zu den beiden Männern hinüber. Der Kleinere beugte sich nieder, zögerte einen Augenblick, als durchzucke ihn ein verheerender Schmerz, und griff dann nach dem Seil. Mit marionettenhaft steifen Bewegungen vertäute er die Jacht an einem Poller.
Sprang Per mit einem raumgreifenden Schritt an Land. Oben in seiner Steuerkabine vernahm Ole Pers gedämpftes Hej!, das von den Männern nicht erwidert wurde, dann sah er, wie Per nach den Taschen griff, um sie an Bord zu tragen.
In diesem Moment stieß ihn der Große mit einer kurzen, ansatzlosen Bewegung seines gesunden Arms weg. Per taumelte nach hinten, prallte gegen die niedrige Bordkante und fiel rücklings auf das Deck der Jacht, wobei er einen erschrockenen Schrei ausstieß. Sein Kopf schlug schwer auf die Planken.
Ungläubig blinzelnd verfolgte Ole die Szene. Er hatte das Bedürfnis, aus der Steuerkabine zu stürzen und den beiden Fremden, auch wenn sie Gäste seines Chefs sein mochten, einmal richtig Bescheid zu sagen, aber wieder bemächtige sich etwas seines Inneren und hinderte ihn daran. Sein Fuß, schon zu einem ersten Schritt in Richtung Kabinentür erhoben, blieb mitten in der Luft schweben. Dann setzte er sich wie von selbst auf den Metallboden zurück.
Ole öffnete den Mund, brachte aber kein einziges Wort heraus, nicht einmal ein Stöhnen. Hilflos verfolgte er, wie die beiden Männer ihre Taschen so vorsichtig aufhoben, als seien die kostbarsten Schätze der Welt darin aufbewahrt, und steifbeinig an Bord staksten, an dem immer noch benommen daliegenden Per vorbei.
Der duckte sich wie ein Hund zur Seite, rappelte sich dann mühsam auf und torkelte mit baumelnden Armen zur Bordkante und von dort weiter, hinüber auf den Kai, um die Vertäuung wieder zu lösen. Dabei schüttelte er immer wieder wie ein schwer angeschlagener Boxer den Kopf.
Zugleich vernahm Ole ein Dröhnen und Poltern auf der Metalltreppe, die zur Steuerkabine hinaufführte. Sein Herzschlag beschleunigte sich, bis es in seiner Brust fast unerträglich pochte. Er starrte wie betäubt zur Tür.
Jetzt schwang sie auf und ließ die beiden Männer ein. Die Air France-Taschen schwangen unheildrohend in ihren Händen, und Ole hatte das entsetzliche Gefühl, dass in diesen so gewöhnlich wirkenden Taschen der Tod persönlich lauerte. Als das kühle Plastik einer der Taschen leicht sein Schienbein streifte, grub er seine Schneidezähne so tief in die Unterlippe, bis er den süßen Geschmack von Blut auf der Zunge spürte.
Von der Stelle rühren konnte er sich nicht.
Die beiden Männer drängten sich an ihm vorbei, ohne zu grüßen oder ihn auch nur zu beachten, und ließen sich schwer auf die Sitzbank im hinteren Teil der Kabine fallen. Ole meinte, zu hören, dass einem von ihnen dabei ein gedämpfter Laut entfuhr, so etwas wie ein schmerzerfülltes Stöhnen, aber das mochte auch Einbildung sein, so überreizt wie seine Nerven waren.
Er wartete, bis Per das Tau vom Poller abgewickelt hatte und wieder an Bord war, dann schaltete er den Motor auf halbe Kraft hoch und ließ die Jacht vom Kai wegtreiben.
Während der ganzen, drei Stunden dauernden Fahrt nach Godsby saß ihm im wahrsten Sinne des Wortes das Grauen im Nacken ...
Von der Anlegestelle Godsbys aus konnte man schon das Herrenhaus erkennen, ein weitläufiges, zweistöckiges Gebäude im landesüblichen Stil. Jetzt, bei Vollmond, wirkte das leuchtend rot gestrichene Holzhaus beinahe schwarz, und die weiß abgesetzten Fenster und Türrahmen schimmerten so weiß wie ausgebleichte Knochen. Die Rückwand des Gebäudes lag zu einem Mischwald aus Kiefern und Fichten, Birken und Ebereschen hin, der eine bedrohliche Kulisse aus massiver Dunkelheit bildete.
Insgesamt war der Anblick heute viel düsterer und unwirklicher, als Ole Jensen ihn je zuvor erlebt hatte, aber das lag nicht an dem Haus und dem Wald selbst, sondern an der Anwesenheit seiner unheimlichen Passagiere mit ihren Angst einflößenden Taschen, die neben ihm den breiten, gewundenen Kiesweg zur Pforte hinaufschritten. Wieder bewegten sie sich wie Marionetten, wie hölzerne Figuren, die von einem unsichtbaren Puppenspieler an hauchdünnen Drähten geführt wurden. Kies knirschte unter ihren Füßen.
Ole wagte kaum, zu ihnen hinüberzuschauen. Er hielt seine Augen starr geradeaus gerichtet und atmete so flach, wie er nur eben konnte, beinahe so, als habe er Angst vor den Folgen, die eintreten mochten, wenn
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